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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1388–1391

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Klinge, Hendrik

Titel/Untertitel:

Verheißene Gegenwart. Die Christologie des Martin Chemnitz.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 376 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 152. Lw. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-56417-2.

Rezensent:

Ulrich Wiedenroth

Die Christologie zählt zu den in jüngerer Zeit vergleichsweise gründlicher untersuchten Themen der lutherischen Dogmatik »zwischen Reformation und Aufklärung«. Die im Jahr 2013 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene, für den Druck geringfügig veränderte Dissertation von Hendrik Klinge (Betreuer: Notger Slenczka; Zweitgutachten: Konrad Stegmann) setzt die Reihe der neueren Untersuchungen zur Gesamtentwicklung wie zu einzelnen Entwürfen dieser Epoche fort. Mit der Christologie des Martin Chemnitz (1522–1586) will der Vf. nicht nur die Position der (neben J. Brenz) zweiten »Portalgestalt« (12) der Ausbildung des »neuen Dogmas der lutherischen Christologie« (Th. Mahlmann) erschließen, sondern zugleich denjenigen Entwurf, der durch seinen maßgeblichen Einfluss auf die Konkordienformel (SD VIII) die »Normgestalt« orthodox-lutherischer Christologie fixiert hat. Näherhin bilanziert der Forschungsüberblick (17–27) als anstehende »Aufgaben der Forschung« (26 f.): 1. das Verhältnis von Chemnitz’ Christologie zu den Entwürfen der ersten Generation reformatorischer Theologie; 2. der systematische Konnex von Abendmahlstheologie und Christologie; 3. das Verhältnis zur konkurrierenden schwäbischen Linie; 4. die Frage einer inneren Entwicklung der Christologie Chemnitz’; 5. die systematische Zuordnung von Abendmahls-, Kirchen- und Weltpräsenz Christi; 6. das »methodische« Profil dieses Entwurfs; schließlich 7. die Frage nach dessen systematischer Konsistenz.
Der Weg zur Antwort auf diese Fragen läuft über drei Stationen. Im ersten Teil (31–102) skizziert der Vf. »Chemnitz’ Christologie in ihrem historischen Kontext«. Die vehementen Debatten der »Spätreformation« (32–35) führen zu interkonfessionellen und bald auch binnenkonfessionellen Friktionen (38–41); für die christologische Frage relevant neben dem Osiandrischen Streit (35–38) vor allem der »zweite Abendmahlsstreit« (34.41–45). Im Spannungsfeld von »Luthers Vermächtnis« (49–53) und der dieses verabschiedenden Christologie des späten Melanchthon (53–65) kommt es in der zweiten Generation reformatorischer Theologie zur Ausbildung deutlich unterschiedener Rezeptionsvarianten; als »Extreme« des Spektrums: der Ausbau der christologischen Argumente in Luthers Abendmahlsschriften zu einer auf den Begriff der Personeinheit basierten Christologie bei den schwäbischen Theologen (J. Brenz; J. Andreae; 65–75) einerseits, die nochmalige »Radikalisierung« der melanchthonischen Restriktionen in der »neuen« Wittenberger Christologie (75–78) andererseits. Chemnitz intendiert hier eine dritte, mittlere Position, dem tradierten »Mittelweg« niedersächsischer Christologie verpflichtet, dieses Erbe aber auf die süddeutsche Christologie hin öffnend (100; vgl. 130 f.).
Der zweite Teil (103–289) erschließt »Chemnitz’ Christologie in ihrem systematischen Zusammenhang«. Der Vf. erhebt zunächst deren methodologisches Profil. »Chemnitz ist Schrifttheologe par excellence« (105; zur Schriftlehre und Hermeneutik: 105–111), der alle materialen Aussagen »in engster Anbindung an das Schriftwort« (100) entwickelt.
Eine Theologie strikt »innerhalb der Grenzen göttlicher Offenbarung« (intra metas divinae patefactionis; 124–130, hier: 125) – dieser Ansatz zeitigt seine Folgen zunächst abendmahlstheologisch, in der (gegenüber Brenz) restriktiven Handhabung christologischer Argumente zur Begründung der Realpräsenz (132–157; vgl. 127). Aber auch in der Christologie im engeren Sinne (158–289), die der Vf. im engen Anschluss an Disposition und Themen von Chemnitz’ reifem Hauptwerk, De Duabus Naturis in 2. Auflage von 1578 (vgl. 97–100; zur literarischen Entwicklung insgesamt: 79–102), analysiert, kommt er zum Tragen. Chemnitz’ Erläuterung der hypostatischen Union (167–177) rezipiert mit der »traditionelle[n] Terminologie« (167) zugleich auch die zentrale Sachbestimmung dieser Tradition, sc. das über Melanchthon vermittelte vor­reformatorische Konzept der Personeinheit Christi als suppositaler Union, das eine Vermittlung der Naturen selbst negiert. Die – registrierte (176) – Spannung zum »lutherischen« Verständnis der Personeinheit als Vollzug von Kommunikation (pointiert: J. Brenz) sucht Chemnitz im Rekurs auf die communicatio idiomatum (178–214) zu beheben, näherhin entfaltet in seiner 1561 erstmals vorgetragenen Eigenthese einer Trichotomie dreier Genera. Mit der als 1. Genus rezipierten traditionellen Bestimmung einer Mitteilung der Eigenschaften an die Person wird hier der nichtkommunikative Personbegriff innerhalb der Idiomenkommunikation zunächst noch einmal wiederholt; eine die Naturen selbst betreffende Mitteilung formulieren erst das 2. (apotelesmatische) Genus und vor allem das 3. Genus mit der These einer Teilhabe (nur einseitig) der menschlichen Natur an den Eigenschaften der Gottheit.
Von den weiteren »Effekten« der hypostatischen Union (darunter: Himmelfahrt, Sessio zur Rechten Gottes, 215–242) analysiert der Vf. besonders Chemnitz’ Entfaltung der Allgegenwart Christi (243–273), ist damit doch das neuralgische Thema des binnenlutherischen Diskurses erreicht. Chemnitz bestimmt sie zentral als willensbegründete, auf Tätigkeit zielende Gegenwart Christi im Abend­mahl und in seiner Kirche. Doch späte Texte konzedieren darüber hinaus eine »allgemeine Welt-Gegenwart auch der Menschheit Christi« (260–270), die für die Zeit der Entäußerung der Konditionierung durch den Logos unterliegt (274–289). Die damit vollzogene Annäherung an die schwäbische These manifestiert die Konkordie von 1577.
Der kürzere dritte Teil behandelt »Chemnitz’ Christologie in ihrer Wirkung und Bedeutung« (291–333). Wenn der Vf. hier Balthasar Mentzer als »Chemnitz’ christologischen Erben« porträtiert (306–315), formuliert er eine für das Verständnis der weiteren Entwicklung lutherischer Christologie weitreichende These. Sie stichhaltig zu begründen, verlangte eine (über das 280 f. Skizzierte hinausgehende) Behandlung der Position von Ä. Hunnius; primär über diesen, seinen Marburger Lehrer, rezipiert Mentzer das »Erbe« der vorlaufenden Lehrentwicklung.
Anregend, doch eher skizzenhaft sind die Versuche, eine deren historischen Kontext übersteigende »Relevanz der chemnitianischen Christologie« (319–333) im Gespräch mit L. Wittgenstein (Christologie als Sprachanalyse; 320–324) und Schleiermacher (Christologie als Deutung von Erfahrung, 324–330; Christologie und Soteriologie, 330–333) zu verdeutlichen.
Im Schluss (334–337) bilanziert der Vf. noch einmal: anti-spekulativ entworfen, soteriologisch fokussiert, auf eine Dynamisierung der christologischen Zentralaussagen hin orientiert: In dieser Profilierung bahne »Chemnitz’ Christologie […] eine ›rechte Mittelstraß‹ zwischen dem antispekulativen Ansatz des frühen Melanchthon und der Einheitschristologie Luthers« (337).
Der Anhang (339–376) mit Abkürzungsverzeichnis, einem nach Quellen und Sekundärliteratur gegliederten Literaturverzeichnis und Register (der Bibelstellen, Personen und – recht knapp – Sa­chen) schließt die Arbeit ab.
Die klar disponierte und flüssig geschriebene Untersuchung bietet eine gründliche Darstellung der chemnitianischen Christologie, die deren besonderes Profil im Ausgang von den fundamentaltheologischen und methodologischen Optionen zu rekonstruieren vermag. An ebendiesem Punkt legen sich Rück- und Anfragen nahe. Wo und inwieweit ist diese dem Anspruch nach rein »innerhalb der Grenzen der Offenbarung« entworfene Christologie nicht doch bestimmt durch undurchschaute oder ungeklärte Rezeptionen »metaphysischer« Restriktionen, die sie (allenfalls) durch Er­gänzungen zu kompensieren sucht (vgl., pars pro toto, F. H. R. Franks nahezu vergessene, m. E. durchschlagende Kritik der Chemnitz repetierenden konkordistischen Konzeption der Idiomenkommunikation: Die Theologie der Concordienformel, Bd. III, 1863, 167–396, hier: 243 f.)? Und gelangt demgegenüber nicht die schwäbische Alternative gerade mit ihrer »spekulativen« Ausarbeitung einer der Personeinheit selbst eignenden »Ontologie« zur Überwindung solcher Restriktionen, im Ergebnis so den biblischen Vorgaben näherkommend als jene »Schrifttheologie par excellence«?
Die vom Vf. vorgelegte profilierte Interpretation wird die weitere Diskussion nicht nur dieser für das Verständnis der »klassischen« lutherischen Christologie relevanten Fragen fördern und fordern.