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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1376–1378

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Deuschle, Matthias A.

Titel/Untertitel:

Ernst Wilhelm Hengstenberg. Ein Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus im Preußen des 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XIII, 658 S. m. Abb. = Beiträge zur historischen Theologie, 169. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-151732-7.

Rezensent:

Alf Christophersen

In seiner kirchenhistorischen Habilitationsschrift aus dem Jahr 2010, die an der Humboldt-Universität zu Berlin vorgelegt wurde, setzt sich Matthias A. Deuschle mit Ernst Wilhelm Hengstenberg, dem Alttestamentler und in mehrfacher Hinsicht legendären Herausgeber der »Evangelischen Kirchenzeitung« (EKZ), auseinander. Wenn Heinrich Heine in »Deutschland ein Wintermärchen« von »Hengstenberger[n]« schrieb, wollte er »damit den deutschen Philis­tergeist« aufgreifen, »der dem französischen Geist der Aufklärung, dem Geist Voltaires, feindlich gegenübersteht« (1). Wie kaum ein zweiter Zeitgenosse verstand es Hengstenberg zu polarisieren. Gesehen wurde er als »Gotteskämpfer« und »mutiger Streiter für den Glauben und die Kirche«, als eifernder Sektierer, als »Satansengel« und »Austreiber des rationalistischen Dämons durch den Beelzebub einer fanatischen Orthodoxie« (die Belege ebd.). Eine ganze Richtung orientierte sich aber auch an ihm. Er war nicht nur als einzelne Person Zentrum der Kritik, sondern die Urteile »sind vielmehr Ausdruck der Gespaltenheit des Protestantismus im 19. Jahrhundert« (2) zwischen liberalem Lager auf der einen und konservativem auf der anderen, mitsamt überaus vielfältigen Zwischentönen.
Die unterschiedlichen Gruppierungen des Protestantismus spiegeln die variantenreichen Positionierungen auf politischem Feld und umgekehrt. D. benennt es, durchaus zu Recht, als Desiderat, dass »die konservative Tradition« von Kirchen- und Theologiegeschichte bislang nur unzureichend erforscht worden ist. Dabei stünde, »[d]ie wissenschaftliche Beschäftigung mit dem kirchlichen Konservatismus […] in einem deutlichen Missverhältnis zu seiner Bedeutung für die Kirche« (3). D. beabsichtigt nun, mit seiner umfangreichen Studie einerseits Leben und Werk Hengstenbergs zu erfassen, um andererseits zugleich »einen Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus überhaupt« (3) zu liefern. Er ist zugleich bestrebt, einen Impuls für weitere Untersuchungen zu geben, so dass immer deutlicher wird, »was im Preußen des 19. Jahrhunderts als kirchlich-konservativ gelten kann« (4) und was nicht. Mit der zweibändigen, dann von Theodor Schmalenbach um einen dritten Band erweiterten Hengstenberg-Biographie von Johannes Bachmann (die Bände erschienen 1876, 1880 und 1892) liegt ein grundlegendes Werk vor, das – trotz defizitärer Struktur und dem doch eingeengten Blick eines wohlwollenden Schülers – nicht übergangen werden kann und, zumal hinsichtlich der Quellenerschließung, bleibende Orientierungspunkte liefert. Wichtige Archivmaterialien, wie der Familienbriefwechsel, sind mittlerweile verschollen (dazu ausführlich 6–9). Gründlich präsentiert D. den Stand der Forschung, nimmt Bezug auf Lexikonartikel, thematische Gesamtdarstellungen, in denen Hengstenberg Er­wähnung findet, und Untersuchungen, die sich mit Teilaspekten seines Werk, wie etwa der Hermeneutik oder seiner Stellung zum Rationalismus und zur historischen Kritik, befassen. Dabei wird zutreffend betont, dass insbesondere die Dissertation von Anne-liese Kriege zu »Hengstenberg im Kontext der Evangelischen Kirchenzeitung« aus dem Jahr 1958 unverzichtbar ist; nicht zuletzt hat sie vielen dort anonym erschienenen Beiträgen einen Verfassernamen zuordnen können, so dass sich Diskurszusammenhänge besser erfassen lassen. D. selbst ist nun bemüht, das bisherige Hengs­tenberg-Bild von Verzerrungen zu befreien. Differenziert erläutert er entsprechend die Quellenbasis seiner Abhandlung (19–26), die sich dann in einer Bibliographie ausdrückt, in der auch einige Hengstenberg neu zugeordnete Texte zu finden sind (601–609; zu den Archivalien s. 609–611).
Entschieden hat sich D. für eine thematische Gliederung. Er präsentiert vier Hauptkapitel, die in sich jeweils chronologisch strukturiert sind und auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Entwickelt wird ein facettenreiches Gesamtbild, das auf die Positionen Hengstenbergs konzentriert ist und die Felder »Erweckungsbewegung« (Kapitel 1, 27–106), »Theologie« (Kapitel 2, 107–300), »Kirche« (Kapitel 3, 301–425) und »Politik« (Kapitel 4, 427–566) abschreitet. Schlussbemerkungen (567–588), einige Abbildungen (591–595), eine Übersicht der von Hengstenberg gehaltenen Vorlesungen (596–599) sowie Literaturverzeichnis und Register (601–659) runden den Band ab.
D. zeigt in seinem ersten Kapitel auf, wie intensiv August Neander und vor allem dann August Tholuck, dessen Römerbriefkommentar einen starken Eindruck hinterließ, auf Hengstenberg bereits in Basel gewirkt haben. Religiöse Lebenswirklichkeit und Faszination für die Wissenschaft fanden so zu einer Einheit. In Berlin lernte er dann beide persönlich kennen. Anhand von Tholucks Erfolgsbuch »Lehre von der Sünde und vom Versöhner« zeichnet D. zentrale erfahrungstheologische Gedankengänge nach, die bei Hengstenberg Spuren hinterließen und sich dann in seinen eigenen Reflexionen niederschlugen, wie in dem Satz »Schrift und Vernunft klingen durcheinander und doch zusammen, wie die Saiten im Psalter« (73; vgl. 77). Hengstenberg war durchaus fähig, Unterscheidungen vorzunehmen, so hielt er die Erweckungsbewegung »im Gegensatz zum Pietismus offen für eine an der Lehre orientierte Ausrichtung und Justierung«. Hier sah er einen Anknüpfungspunkt für eigene Tätigkeit, um mit »einer selbstbewussten Polemik« (105) eine tragfähige theologische Basis zu begründen. Intensiv greift D. die Theologiefähigkeit der Erweckungsbewegung auf, wenn er in seinem zweiten Kapitel Hengstenbergs im Kampf mit Neander gewonnener Verhältnisbestimmung von »Theologie und Glaube« nachgeht, die »Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dem ›Prinzip der Subjektivität‹« aufzeigt, seinen Protagonisten als Alttestamentler skizziert, Grundzüge seiner Theologie profiliert und ihn in seiner lehrenden Funktion beschreibt. Eingeflochten wird auch die Entwicklung der EKZ, die mit Angriffen auf Schleiermacher – er sah in Hengstenberg einen »hyperevangelischen Gegner« (139) – Fahrt aufnimmt. Die gelegentliche Unsicherheit, wer hinter anonym veröffentlichten Artikeln als Autor vermutet werden kann, wird von D. breit problematisiert. Die zunächst relativ reduzierte Erörterung der theologischen Positionen Hengstenbergs wird im dritten Kapitel vertieft, in dem Aspekte des Bekenntnisses und der Preußischen Union sowie Verfassungsfragen debattiert werden. In den Vordergrund tritt dabei, dass für Hengstenberg »die Frage nach der äußeren Gestalt der Kirche […] nie an erster Stelle stand« (423). Wer die Kirche erneuern wollte, musste dies durch die Lehre begründen. Im vierten Kapitel folgt D. schließlich dem durchaus zähen Aufstieg Hengstenbergs unter dem Ministerium Altenstein. Zudem wird die inhaltliche Verortung der EKZ, durchaus auch ihre »Politisierung« (534), analysiert, die von Einflussnahmen aller Art bedroht war. D. charakterisiert Hengstenberg als Mann des Wortes: »Die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung war sein Ziel, und dieses Ziel hat er wie kaum ein anderer erreicht.« (566)
In seinen Schlussbemerkungen versucht D. vor allem auch, den Konservatismusbegriff mit Hengstenberg zu verbinden. Die be­treffenden Passagen haben den Charakter einer Problemanzeige und laden zu weiteren Untersuchungen und Theoriereflexionen ein, die dann auch den Übergang vom 19. zum 20. Jh. in den Blick nehmen können.