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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1153–1155

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Snow, Nancy E. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Cultivating Virtue. Perspectives from Philosophy, Theology, and Psychology.

Verlag:

New York u. a.: Oxford University Press 2015. 368 S. Kart. US$ 36,95. ISBN 978-0-19-996744-5.

Rezensent:

Jochen Schmidt

Tugend und Charakter stehen seit einigen Jahrzehnten wieder vor allem auf der philosophischen, teils auch auf der theologischen Agenda. Nancy Snow, Autorin einer der vielbeachteten neueren Monographien zur Tugendethik, hat nun einen Sammelband zur Bildung von Tugenden herausgegeben, dessen philosophische, theologische und psychologische Beiträge durch die Fokussierung auf den Aspekt des Herausbildens von Tugend – Cultivating Virtue – neue Impulse geben. Die Frage nach der Entstehung von Tugend, nach der Bildung moralischen Charakters ist in der Tat ein Teilgebiet der Tugendethik, dem noch nicht die Beachtung zuteilgeworden ist, die ihm gebührt. Durch seine interdisziplinäre Ausrichtung bildet der Band die Diskussionslage gut ab.
Insbesondere die Herausforderung der Tugendethik durch den situationalism, i. e. die Behauptung, Tugend, moralischer Charakter, ja Persönlichkeit überhaupt hätten sich durch empirische Forschungen als haltlose Fiktionen erwiesen, wird immer wieder aufgegriffen und aus philosophischen, theologischen und psychologischen Perspektiven diskutiert: Der Beitrag von Slingerland stellt diese Debatte in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, diverse weitere Beiträge (Russel, Herdt, Thompson, McAdams) gehen ebenfalls hierauf ein. Die Anfragen der situationalist critique werden zu Recht ernst genommen, zugleich erschöpfen sich die Beiträge nicht in der Apologetik, sondern treiben im Angesicht dieser Kritik das Nachdenken über die Bildung von Tugend und moralischem Charakter voran. Dass in den Beiträgen des Bandes soziale Faktoren als Bedingungen gelingender Bildung von Tugend immer wieder hervorgehoben werden, mag auf den ersten Blick wenig überraschend sein. Weiterführend ist es aber doch, dass die Interdependenz von sozialen und personalen Faktoren in einer konstruktiven Weise zur Geltung kommt (vor allem bei Narvaez, »The Co-Construction of Virtue«, auch bei Ross A. Thompson, »The Development of Virtue«, Bucar, s. u., Herdt, s. u.), anstatt dass diese gegen jene ausgespielt werden, wie es in der situationalist critique an der Tugendethik zuweilen geschehen ist. Exemplarisch seien im Folgenden Beiträge diskutiert, die philosophiegeschichtliche, muslimische und christliche Perspektiven einbringen.
Daniel Russel setzt in seinem Beitrag »Aristotle on Cultivating Virtue« (17–48) die von Daniel Lapsley und Darcia Narváez vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer pfad-unabhängigen und einer pfad-abhängigen Theorie der moralischen Entwicklung voraus. Erstere geht von einem Ideal der tugendhaften Person aus und fragt nach der Bedingung der Möglichkeit für deren Realisierung, Letztere fragt ausgehend vom jeweils vorfindlichen Ist-Zustand, welche gegebenen Eigenschaften in welcher Weise zu kultivieren wären. Bei Aristoteles finden wir, so demonstriert Russel, eine Theorie der Entwicklung von Tugend ›von unten‹. Tugend ist eine Fähigkeit ( skill), nämlich die Fähigkeit, gut darin zu sein, das eigene Leben zu leben. Diese Fähigkeit wird gebildet, indem Personen sich erstrebenswerte Ziele zu eigen machen und die Umwelt im Horizont dieser Ziele zunehmend effizient wahrzunehmen lernen. Die Verbesserung dessen, was da ist, und nicht das Streben nach einem abstrakten Ideal orientiert also das Lernen der Tugend, das mithin als mühsame Bodenarbeit zu beschreiben ist: »it is possible to improve our character, but we should expect it to be messy, piecemeal, varied, impure, culturally bounded, historically bound­ed, uneven, slow, and difficult« (41).
Im Vorwort ihres Bandes bemerkt die Herausgeberin: »we should begin to acknowledge that theological perspectives on virtue can add value to philosophical discussions« (2). Die damit geschürte Erwartung, man könne von Theologien vielleicht doch etwas lernen, wird durch den christlichen und den muslimischen Beitrag mehr als erfüllt. Elizabeth Bucar möchte mit ihrem Aufsatz »Islam and the Cultivation of Character. Ibn Miskawayh’s Synthesis and the Case of the Veil« (197–225) zur Korrektur eines einseitigen Bildes islamischer Ethik beitragen. Ein großer Teil der Arbeiten zur islamischen Ethik, die in den letzten 50 Jahren im Westen (i. e. in Europa und in den USA) erschienen sind, fallen, so Bucar, in den Bereich der fiqh, also der islamischen Rechtswissenschaft. Demgegenüber stehen in Erzählungen von Mohammed, die in den Hadithen gesammelt sind, Charakter und Vorbildhaftigkeit im Mittelpunkt des Interesses, und dies spiegelt sich etwa in Studien wie »Die Vervollkommnung des Charakters« (Tahdhīb al-Akhlāq) aus der Feder des persischen Theologen Aḥmad Ibn-Muḥammad Miskawaih (932–1030) wider, auf die Bucar sich konzentriert. Als Kernelemente von Miskawaihs Theorie der Bildung von Tugend be­nennt sie leibliche Vollzüge, die Kultivierung des Begehrens und öffentliche Interaktionen. Vor diesem Hintergrund argumentiert sie, dass das Kopftuch nicht als Symbol für eine bestimmte Überzeugung, sondern als Mittel zu verstehen sei, durch das die Art und Weise verändert werde, in der Männer und Frauen einander ansähen.
Jennifer Herdt verdeutlicht in ihrem Aufsatz »Fragmentation, and Social Dependency in the Cultivation of Christian Virtue« (227–249) nachdrücklich die Bedeutung des Christentums für die moderne Tugendethik, die ihm nicht trotz, sondern gerade wegen christlicher Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Menschen zur Tugendhaftigkeit zukommt, denn gerade das diese Skepsis begründende Problembewusstsein prädestiniert die entsprechenden Stränge der christlichen Tradition dafür, in Anbetracht der Kritik an der Tugendethik Impulse zur Weiterentwicklung der Tugendethik zu geben. Solche Impulse sucht Herdt auch in Zusammenhängen, die nicht expressis verbis mit dem semantischen Feld Tugend in Verbindung stehen, etwa in der Praxis der Meditation, der Selbstreflexion, des Gebets, der Askese und des Gottesdienstes. Weiterhin deutet sie das Gebot der Nächstenliebe als Aufforderung dazu, bestimmte Dispositionen, i. e. Muster der Wahrnehmung und der Reaktion zu kultivieren. Wenn durch die wiederholte Vergegenwärtigung von Idealen, Glaubenseinstellungen, Wünschen und Zielen relativ stabile personale Eigenschaften gebildet werden können, dann gilt dies auch für christliche Praxis. Dass, wie empirisch-ethische Studien gezeigt haben, situative Faktoren einen in bestimmten Konstellationen immensen Einfluss auf das Verhalten ausüben, ist, so Herdt, wenig überraschend, wenn man mit der Fehlbarkeit des Menschen rechnet. Die Konsequenz ist aber nicht, dass das Streben nach Tugenden aufgegeben werden sollte, sondern, dass dem Gedeihen von Tugend förderliche soziale Strukturen geschaffen werden müssen. Aus ebendiesem Grund verweisen Christen auf die Kirche – und, insofern diese wie jede soziale Institution korrumpiert sein kann, auf die Gnade Gottes.
Dan P. McAdams zieht in seinem Beitrag »Psychological Science and the Nicomachaen Ethics« (307–336) Parallelen zwischen entwicklungspsychologischen Darstellungen der Reifung der Persönlichkeit und der aristotelischen Beschreibung der Herausbildung von Tugenden; besonders eindrücklich ist dabei die Zusammenschau aristotelischer theoria mit der Besinnung auf die eigene Lebensgeschichte in der Selbsterzählung.
Jeder der in Cultivating Virtue versammelten Aufsätze gibt fruchtbare Impulse für weitere Forschungen zur Tugendethik. Stark sind die Beiträge gerade dort, wo sie auf die Schwierigkeiten, vor die sich jedes Streben nach der Bildung von Tugend und Charakter gestellt sieht, in einer konstruktiven Art und Weise einzugehen vermögen.