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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1135–1137

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Seubert, Harald

Titel/Untertitel:

Gesicherte Freiheiten. Eine politische Philosophie für das 21. Jahrhundert.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2015. 459 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-8487-1682-1.

Rezensent:

Reiner Andreas Neuschäfer

Mit seinem voluminösen Werk legt Harald Seubert ein beacht-liches persönliches Panorama zur Politischen Philosophie vor, das gerade für Theologen eine Fülle an Fragen und Fakten zur Sprache bringt, die die Notwendigkeit philosophischer Bildung für den kirchlich-theologischen Bereich ausgesprochen ansprechend an­schaulich macht. Statt gedanklicher oder argumentativer Schnellschüsse etlicher kirchlicher Verlautbarungen oder Theologen-Äußerungen bietet das Buch eine durchdachte, den Schatz der philosophisch-theologischen Tradition immer wieder hebende, Durchdringung drängender Themen. Als Experte für Tradition und Innovation geht es S. um den Zusammenhang von Pluralität und Orientierungswissen, von aktuellen Herausforderungen und den Fragen des 21. Jh.s sowie um eine konkrete Begründung, aus welchen Traditionen ein politischer Raum gewebt sein muss, der etwas aushält, der die Mannigfaltigkeit menschlicher Bedürfnisse und Probleme im Blick behalten kann. Eine solche, von »Gesicherte[n] Freiheiten« geprägte Bestimmung der Gegenwart schafft einige »Inseln des Voraussehbaren« in einem ansonsten vorherrschenden »Meer der Ungewissheiten«. Sicherheit und Freiheit sind damit mehr als lediglich zwei Waagschalen, die auszutarieren wären.
Das große Gespräch vergangener und gegenwärtiger Weltkulturen, das denkerische Durchdringen problematischer Punkte in Politik und Philosophie sowie die ost-westlichen Einheiten in der Differenz halten S. in Atem. Auch von daher ist sein Buch wie ein Langstreckenlauf, bei dem man die vielen Potentiale und Grenzen des Eigenen genauso wahrnehmen kann wie die Besonderheiten und Schönheiten des Terrains, das man durchläuft. Das Buch atmet daher nicht die Windschnittigkeit von Bestsellern, sondern ist im besten Sinne des Wortes anstrengend und anregend zugleich. Es wird einem bei der Lektüre weder langweilig noch ist diese langatmig. Es dauert nicht lange, da spürt der Leser wie der Läufer: Ohne Widerständigkeit geht es nicht. Man darf es sich nicht zu leicht machen. Nur wer es sich in richtiger Weise schwer macht, kommt an Grenzen und schließlich zu den Leichtigkeiten, zu dem Leichtverständlichen und Eingängigen. Und genau darauf kommt es S. an: auf Gedanken, die bleiben, auf Grundlagen, die Bestand haben: Die Komplexität der Welt wird komplett vernachlässigt, wenn knappe Google-Recherchen und mehr nach Aufmerksamkeit als nach Wahrheit haschende PowerPoint-Zeilen oder News-Notizen die Wahrnehmung der Wirklichkeit(en) bestimmen. Vertiefte Lektüre ist unmittelbar mit vertieftem Denken verknüpft. Viele Fragen sind nicht monokausal zu beantworten, sondern nur aus vielen Perspektiven zu betrachten. Daher ist eine reflexionsfreundliche Politische Philosophie unabdingbar, die nicht bloß reagiert, sondern reflektiert den globalisierten und polyzentrischen Herausforderungen, Differenzen und Konflikten begegnet. »Politische Philosophie sollte sich nicht nur auf Gerechtigkeitsstrukturen fo­kussieren, sondern realistisch menschliches Handeln in Betracht ziehen. Jener Realismus kann nicht zuletzt von weltreisenden Reportern gelernt werden […] Eine Welt aus den Fugen ist auch eine Welt, in der die eine gemeinsame Analyse und Beschreibung nicht möglich ist. Es mag der an sich ehrenwerten Tendenz, vordergründig und im Sinne einer billigen Freedom-and-democracy-Ausgleichspolitik, doch als guter Mensch erscheinen zu wollen, entsprechen, wenn man das Ungleiche gleich behandelt; etwa die ›Arabellion‹ nach dem – zumindest unzureichenden – Maßstab der Schrittfolge in Richtung auf westliche Demokratien.« (355) Ohne »Ideologie- und Gesellschaftskritik« (15) geht es nicht. Dafür ist allerdings insbesondere im Blick auf Internet-Entwicklungen ein angemessener »Vernunftgebrauch« (435) eines humanus mundanus (253 u. ö.) einzufordern, um demokratische Prozesse aufrechtzu-erhalten. Zu den lange vernachlässigten Faktoren denkerischer Durchdringung Politischer Philosophie zählen für S. insbesondere: Interkulturalität, Verhältnis von Politik und Religion, Sicherheitsarchitektur, Politik und Moral sowie Politik und Recht.
S.s geistreicher Stil ist sicherlich zunächst gewöhnungsbedürftig und etwas albumhaft, da durch den ästhetisch-assoziativen, teils andeutungshaften Zugriff nicht immer alle Zusammenhänge gleich durchschaubar erscheinen. Zukünftigen Titeln ist daher eine noch konsequentere Systematisierung zur Erhöhung der Lesefreundlichkeit zu wünschen.
Der erste Teil unter der Überschrift: »Ariadnefaden und Labyrinth« (25–334) erörtert insbesondere Fragen zur Polis, zu Staat und bürgerlicher Freiheit, Recht und Gerechtigkeit sowie Demokratie, Ökonomie, Globalität und Universalität. Diese politischen Gedanken materialisierten sich zum einen in Handlungen, zum anderen in Gesetzen und auch Gegensätzen. Nicht zuletzt kommen Fragen zu Krieg und Frieden zum Tragen und werden in den Kontext einer politischen Philosophie des 21. Jh.s gestellt. Hervorzuheben sind die Ausführungen zur europäischen Philosophie, wobei S. das Denken eines Platon und Aristoteles ebenso sorgsam eruiert, wie er die Zwei-Reiche-Lehre eines Augustin vortrefflich analysiert. Nach Gedanken zur politischen Theologie des Paulus wendet sich S. mittelalterlichen Konstellationen politischer Philosophie und Theologie zu, um schließlich Wurzeln moderner politischer Denkweisen aufzuzeigen. Infolgedessen legt er hinsichtlich des Zeitalters des Totalitarismus die Hauptströme des Marxismus der extremen Rechten im 20. Jh. offen.
Der zweite Teil »Tektoniken« (339–402) ist durch ein eher erzählendes Vorgehen gekennzeichnet und nimmt insbesondere die Moralphilosophie und Rechtsphilosophie in den Blick, Letztere mit dem Schwerpunkt der Menschenwürde und -rechte. Hilfreich sind hier auch die klaren Begriffsklärungen. Der Gefahr einer breiten »Diktatur des Meinens«, die losgelöst von politischer Vernunft sich an augenblicklichen Affekten und Wünschen ausrichtet, will S. durch einen juristischen Geist und ein Gleichgewicht von Rechten und Pflichten begegnen.
Der knappe dritte Teil (403–437) zieht »Grundlinien« einer neuen politischen Philosophie für eine neue politische Weltlage und führt eine Reihe aktueller Problemlagen an, auch um aufzuzeigen, dass politische Regulierungsmöglichkeiten nur noch sehr be­grenzt vorliegen und daher eine politisch-philosophische Be­standsaufnahme sich zu orientieren habe an ökonomischen, finanzwirtschaftlichen, außenpolitischen, interkulturellen und ökologischen Dimensionen.
Das Buch endet mit einem knappen Epilog »Zwischen ewigem Frieden und dem fragilen Gleichgewicht« (439–443) und seinen prägnanten, zum Buch passenden Eingangsworten »Zwiesprüchlich ist und bleibt die Welt […]« (441). Ein ausgewähltes Literaturverzeichnis sowie ein detailliertes Stichwortverzeichnis runden dieses Buch als Fundgrube für Forschungen, Fragen und Fakten ab.
Auch wenn S. als Philosoph, Religionswissenschaftler und Theologe nach verbindenden Verbindlichkeiten sucht, dabei gerne auf antike, alt- und neutestamentliche, kirchenhistorische und philosophische Traditionen verweist und sich offensiv auf das Christentum im Zusammenhang der Weltreligionen beruft, lässt er sich nicht einfach einem Cluster zuordnen. Mit dem Epitheton eines »Konservativen« ist allenfalls eine Komponente getroffen – ohne S.s weites Panorama der vielen Problemzusammenhänge, seinen unkonventionellen Habitus und seine detailwahrnehmende Aufmerksamkeit aufzugreifen. Wer sorgsame Analysen und tiefgründige Denkwege auch jenseits gegenwärtiger Hauptströme nicht scheut, wird mehr von den Vorzügen einer soliden Politischen Philosophie begreifen und öfter zu diesem Buch greifen.