Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1134–1135

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ricken, Friedo

Titel/Untertitel:

Kontexte der Vernunft.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 157 S. Kart. EUR 34,99. ISBN 978-3-17-028937-6.

Rezensent:

Jörg Dierken

Die katholische Theologie kann ihr protestantisches Gegenüber an Themen erinnern, die auch dann aufgegeben bleiben, wenn beide Gestalten des Christlichen in ihrer religiösen Eigenart gewürdigt werden. Hierzu gehört, dass Religion eine Angelegenheit der Vernunft ist und sich nicht in Opposition dazu erschöpft. Berührungspunkte von Glauben und Denken zeigen sich spätestens daran, dass noch ihre Separation gedanklich verstanden sein will. Auch Differenz ist eine Relation, deren Ordnung selbst einen einheitlichen Zusammenhang bildet. Wenn Vernunft zu den Erörterungsbedingungen von Religion gehört, fragt sich freilich, welches diesbezügliche Konzept gemeint sein mag. Anders als Papst Benedikt II., der hier klar auf die antike, vor allem platonische Tradition setzte und die Vernunftverständnisse der Moderne distanzierte, geht der als Emeritus an der Münchener Jesuitenhochschule tätige Friedo Ricken den Zusammenhängen der Vernunft in Antike wie Moderne nach. Dabei ist vor allem ein Thema für ihn von Interesse: Dass die Vernunft auch ihr vermeintliches Gegenüber, etwa die Sinnlichkeit und »unteren« Seelenvermögen, umgreift. Vernunft ist demnach unzureichend verstanden, wenn sie von Natur apart gesetzt wird, etwa als bloße Idee gegenüber der Wirklichkeit oder als reines Sollen gegenüber dem Sein.
Der Band versammelt zwölf zumeist dicht geschriebene, mitunter auch etwas sperrig wirkende Aufsätze. Sie sind eher im Stil von Miniaturen zu markanten Begriffen oder von Detailstudien zu Auslegungsproblemen philosophisch-theologischer Texte gehalten, freihändige Überlegungen oder perspektivische Fluchtlinien finden sich seltener. Implizit sind sie freilich vorhanden, bedürfen aber geduldiger Freilegung. Die erste Hälfte der Texte widmet sich Fragen der Platon- und Aristoteles-Interpretation, gefolgt von Studien zur Antikenrezeption bei Thomas von Aquin. Die letzten Beiträge gehen modernen Denkern nach, wobei Kant eine Scharnierstellung zugewiesen wird.
Die platonische Form des Dialogs sei ein literarische Formen arrangierendes, zugleich argumentatives Denken im Vollzug, das zu eigener Stellungnahme herausfordert, ohne Geltungsansprüche zu relativieren. Exemplarisch habe etwa die Staatskunst nach Platon das Ganze im Blick zu behalten und sei zugleich an der Norm einer transzendenten Idealverfassung zu messen. Erforderlich ist Phronesis, sittliche Einsicht, die R. im Kontext weiterer geistiger Vermögen als Urteilskraft deutet. Auch Aristoteles’ Ethik habe ihre Fluchtlinie in sittlicher Einsicht, die ausgleichend auf die Affekte wirkt und im Widerstreit erstrebter Güter abwägend auf das Wahre im Ganzen schaut. Aristoteles’ metaphysische Ontologie wird als Rahmen für ein Verständnis des Menschen als handelndes Wesen verstanden, wenngleich alle Bewegung in die Grenzen einer kosmologisch-biologischen Statik, die keine Evolution denken lässt, eingeschlossen bleibt. Zwar kenne die antike Klassik noch nicht den an Thomas von Aquin erörterten Begriff des Gewissens als con-scientia, doch etwa mit der Anordnung von Heilkunst als Technik, die von den Tugenden der Phronesis und Epikie eingehegt wird, seien Grundgehalte des Phänomens antizipiert. In dem etwas spröde wirkenden Text bleibt die für moderne Gewissenskonzeptionen maßgebliche Frage offen, ob das Gewissen in eine objektive sittliche Ordnung eingebettet ist oder ob diese vielmehr in der Perspektive von subjektiven Gewissheiten erscheint. In der Erbschaft der Antike verstehe Thomas das gute Leben als Freundschaft mit sich selbst, mithin als ein von vernünftiger Selbstbeurteilung getragenes und offenes Identitätskonzept, das der Verzweiflung die Hoffnung entgegensetzt. Dass auch die primär nichtvernünftigen Affekte durch ihre Bewegungsordnung selbst eine Tendenz zum Vernünftigen haben und im Guten, das im Affekt der Liebe erstrebt wird, ihr Ziel finden, führt ein interessanter Beitrag zu Thomas’ passionibus animae aus. Damit werde schließlich der Affekt der Liebe selbst zur »letzte[n] Instanz der Begründung« und »Er­fass[ung] des Guten« (95).
Während die Beiträge zu den antiken bzw. mittelalterlichen Denkern die Vernunft eher in kontextualisierten mentalen Vollzügen erblicken, kommt in die Diskussion moderner Konzeptionen tendenziell ein universalgeschichtliches Moment hinein. So sei Kants nahe an das ethisch gemeine Kirchenwesen gerückter Vernunftstaat als Telos der Geschichte zu verstehen. Mit Kant sieht R. deren Ablauf von der »Zwietracht« der Natur motiviert, Freiheit ist bei ihm aber weniger ein Thema als bei Kant. Dessen Interpret hat kein Problem damit, die christliche Offenbarungsreligion um­standslos als die natürliche und auch vernünftige zu verstehen – jedenfalls sofern sie sich permanent zum reinen Vernunftglauben transformiert. Für konfessionalistische Enge ist kein Raum, der freilich an katholisches Denken erinnernde Universalismus einer Einheit von Natur und Gnade wird gegen alle kirchliche Identifikation elastisch gehalten.
Nicht im Fokus ist bei dieser Kant-Deutung eine andere Pointe des Vernunftglaubens, über das »Historische« des kritisierten Kirchenglaubens geschichtlich-soziologischen Realitätsbezug zu gewinnen und dadurch auf Kontingentes bezogen zu sein. Ein Beitrag zum amerikanischen Pragmatismus geht der sich selbst im Gemeinschaftshandeln inszenierenden Wahrheitsorientierung von James und Dewey nach. Das schließe eine »objektive sittliche Ordnung« (122), wie sie das christliche Naturrecht kenne, keineswegs aus. Gegen McIntyres düstere Distanzierung der Aufklärung setzt R. schließlich eine Verteidigung dieses modernen Paradigmenwechsels. Er habe faktisch Motive von Ciceros anthropologischer Moralfundierung reformuliert, allerdings ohne die universale Einbettung, wie sie in Ciceros De officiis und Thomas’ Lex-Traktat enthalten ist. Daher sei das aufgeklärte Paradigma »verarmt« (150). Dass der Pflichtbegriff gerade in der Kantischen Tradition gedanklich geadelt und in modernen Güterethiken konkretisiert werden konnte, wird nicht zum Thema.
R.s Kontextualisierung der Vernunft lebt von Inversionen. Ge­schichtsteleologie und objektive sittliche Ordnung kommen eher von modernen Denkern her in Betracht, die Vollzüge des Subjekts hingegen werden von antiken Konzeptionen aus angepeilt. Die In­versionen lassen sich noch in kleineren Differentialen finden, wie etwa an Urteilskraft und Gewissen deutlich wird. Das macht das Buch interessant, führt aber auch zu einer grundlegenden Rückfrage. Denn es deutet auch solche Positionen im Zeichen einer Einheit von Natur und Gnade, die zumindest methodisch auf deren Differenz abstellen – nicht zuletzt, um vernunfthaltige Ankerpunkte für das Kontingente, Relative oder gar Irrationale zu finden.