Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1123–1125

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Metz, Detlef

Titel/Untertitel:

Das protestantische Drama. Evangelisches geist-liches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter.

Verlag:

Wien u. a.: Böhlau 2013. 884 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-412-21032-8.

Rezensent:

Christopher Voigt-Goy

Die konfessionskulturelle Prägung des Theaters im lutherischen und reformierten Protestantismus hat bislang eher selten die Aufmerksamkeit der kirchen- und theologiehistorischen Forschung auf sich gezogen. Die Arbeit von Detlef Metz, die im Sommerse-mes­ter 2012 als Habilitationsschrift an der Evangelisch-theolo-gischen Fakultät in Tübingen angenommen wurde, ist ein wich-tiger An­stoß für weitere Forschung auf diesem Feld.
Gegliedert ist der voluminöse Band in vier Abschnitte, die selbst monographische Ausmaße haben: Der erste Teil »Annäherungen« (15–101) eröffnet mit einem Überblick über die Entwicklung des (protestantischen) Dramas von den frühen 1520er Jahren bis in das frühe 17. Jh. hinein, schildert darauf den Forschungsstand und schließt mit Perspektiven für die nachfolgenden Studien. Der zweite Teil »Grundlegung. Konzeptionen des geistlichen Dramas im Protes­tantismus der Reformationszeit und der frühen konfessionellen Zeit« (102–314) widmet sich den Dramen und Dramenautoren sowie den theologischen Stellungnahmen zum Drama, den Dramentypen und zum Theater bzw. der Theaterpraxis, zunächst in der Wittenberger Reformation sowie dem frühen Luthertum, dann im kontinentalen Reformiertentum. Der dritte Teil »Konkretion. Die Dramatisierung geistlicher Stoffe im protestantischen Drama der Reformationszeit und des konfessionellen Zeitalters« (315–709) behandelt in drei Fallstudien den »Abraham-Stoff« an­hand von neun, den »Stephanus-Stoff« anhand von vier sowie die »Gestalt Martin Luthers« anhand von drei Theatertexten. Im vierten Teil »Ertrag« (710–829) werden nicht nur gemachte Beobachtungen zusammengetragen, sondern weitere Perspektiven eröffnet: auf die Polemik im Rahmen der protestantischen Dramen, im Vergleich zum Jesuitentheater und mit Bezug auf das sogenannte »Konfessionalisierungsparadigma« bzw. den Begriff der »Konfes-sionskultur«.
Mehrfach merkt M. an, dass er nur einen Ausschnitt aus der Masse frühneuzeitlicher protestantischer Dramen- und Theaterproduktion beleuchten kann. Gleichwohl ist die von ihm präsentierte Fülle des Materials erdrückend. Manchmal gleichen Passagen der Studie von M. ausführlichen Lexikonartikeln, so etwa der einführende Überblick (21–48), in dem man grundlegende Informationen zur Genese des »protestantischen Dramas«, den Autoren, der Aufführungspraxis bis hin zu den Drucken der Dramen findet. Diesem – nicht auf den ersten Teil beschränkten und im guten Sinn des Wortes gemeinten – Positivismus der Arbeit mitsamt seinem Detailreichtum kann die Rezension nicht im Einzelnen gerecht werden.
Ein hervorstechendes Ergebnis der mühevollen, sichtlich mit großer Ausdauer vorgenommenen Arbeit stellt jedoch der zweite Teil vor Augen. Ausgehend von einer umfangreichen Erfassung der Dramen, Dramenautoren und Dramenaufführungen im lutherischen (104–123) sowie reformierten Kontext deutsch- wie französischsprachiger Provenienz (228–256) stellt M. in zwei Bögen Positionen der theologischen Theaterkritik wie -befürwortung von Martin Luther bis Balthasar Meisner (123–219) bzw. von Martin Bucer bis zum St. Gallener Gymnasiumsrektor David Wetter (256–314) vor; ein Exkurs über die Entwicklung in den Niederlanden ist eingefügt (287–289). Diese Fundgrube an Fakten und Äußerungen macht nicht nur die dauerhafte Präsenz des Theaters in allen protestantischen Konfessionen, die Rolle von Theologen – darunter auch Theodor Beza –, Kirchenbediensteten, Schullehrern oder theologisch gebildeten »Laien« als Autoren sowie die Bedeutung solcher Druckorte wie Genf für die Verbreitung des protestantischen Dramas deutlich, sondern legt auch erhebliche Binnendifferenzierung im Verhältnis der protestantischen Konfessionen zum Drama bzw. Theater nahe: Trifft natürlich ein der bloßen Belustigung dienendes, zudem rein weltliches Theatervergnügen auf keine besonderen Sympathien, so ist die differenzierte, mit unterschiedlichen Kautelen versehene Zustimmung (Verbot der Darstellung be­stimmter biblischer Ereignisse wie Geburt, Tod und Auferstehung Jesu; Probleme mit Kostümen oder Darstellung von »Sünden«) zum Theater als populärem Medium der Evangeliumsverkündigung – M. spricht hier auch von »Predigt zweiter Ordnung« – keineswegs die Ausnahme als vielmehr der Grundton in den protestantischen Konfessionen. Gerade mit Blick auf überkommene Deutungen des als notorisch theaterfeindlich angesehenen reformierten Protes­tantismus wird das von M. deutlich herausgearbeitet. Nur in der Position des Züricher Antistes Johann Jakob Breitinger im frühen 17. Jh. identifiziert M. eine ebenso prinzipielle wie pauschale Ablehnung jedweden theaterbezogenen Vergnügens, inklusive der Produktion von Dramentexten (289–299).
Leider geht M. trotz seiner immensen Quellenkenntnis dieser Theater- und Dramendiskussion nicht als gesamtprotestantischem Diskurs nach, oder versucht sie als solchen zu rekonstruieren. Dadurch wird die sich im betrachteten Zeitraum immer deutlicher ausprägende Unterscheidung in der Adiaphora-Auffassung zwischen Lutheranern und Reformierten als theologischer Ankerpunkt für die Verhältnisbestimmung zum Drama bzw. Theater (wie zur Ästhetik insgesamt) nur angedeutet; ein Blick in die Studie von Reimund Sdzuj »Adiaphorie und Kunst« (Tübingen 2005) hätte hier sicher weitergeholfen und die Perspektive geschärft. Generell hätte sich der Rezensent mehr systematische Abstraktion, zuspitzendes Urteil oder Betonung des Exemplarischen gewünscht. Aber das ist eine der sich durchziehenden Schwächen des gesamten Buchs.
Das macht die Lektüre des umfangreichsten dritten Teils – bei dem M. zumindest »Vollständigkeit« hinsichtlich der Erfassung des Materials anstrebt (99) – dann auch mühsam. Denn alle herangezogenen Texte werden nacheinander ausführlich referiert. Im Zusammenhang mit seiner Darstellung der Aufarbeitung der Opferung Isaaks, in der er auch reformierte Theatertexte heranzieht, hebt M. die gesamtprotestantische Orientierung der Dramatisierung an Luthers Genesisvorlesung hervor, sieht aber auch gemeinchristliche Motive am Werk. Viele der Dramen hätten einen »Schwerpunkt auf den Trostaspekt« (522) gelegt. Die Dramen zum Stephanus-Martyrium, die offenbar nur im Luthertum zwischen 1564 und 1592 beliebt waren, haben hingegen »die Funktion des Bußrufs und der Warnung an die der Verachtung des Gotteswortes und des Pfarrerstandes beschuldigten eigenen Gemeindeglieder« (631). Die im späten 16. Jh. aufkommenden (lutherischen) Lu­ther-dramen schließlich, von denen M. insgesamt zwölf identifiziert und drei behandelt, »bekunden ein Bedürfnis nach wirklicher Weisung durch die Person Luthers und damit auch durch seine Theologie« (709). Der beträchtliche Aufwand in der Verarbeitung von Material und der daraus gewonnene Ertrag stehen in diesem ganzen Teil in spannungsvoller Distanz zueinander. Der vierte, letzte und unkonzentrierteste Teil hat additiven Charakter. Der Stoffmasse wird noch weitere hinzugefügt. Gerade mit Blick auf die Ausführungen zum Jesuitentheater (754–790) fragt sich der Rezen sent, warum die von M. umfangreich rezipierte Forschung zu diesem Thema nicht für die Arbeit am protestantischen Drama systematisch fruchtbar gemacht wurde.
M.s Studie hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck: Sie ist einerseits in der Aufdeckung und Präsentation von Material nicht hoch genug zu schätzen. Zukünftige Arbeiten werden dankbar auf sie zurückgreifen und auf ihr aufbauen können. Andererseits fehlt der immer ausufernden, mäandernden Darstellung ein kategorialer Zugriff auf das Material, der es zumindest dem Leser wirklich erschließt. Wer sich für das Thema frühneuzeitlicher protestantischer Theaterkultur interessiert, wird dieses Buch als Nachschlagewerk nutzen.