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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

978–980

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bühler, Pierre, u. Simon Peng-Keller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bildhaftes Erleben in Todesnähe. Hermeneutische Erkundungen einer heutigen ars moriendi.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 232 S. Kart. EUR 36,90. ISBN 978-3-290-17771-3.

Rezensent:

Thomas Klie

Sterben ist keine Kunst. Sterben ist einem Leben geschuldet, das es mehr oder weniger früh, mehr oder weniger schmerzvoll beendet. Vor diesem Horizont erscheint die ars moriendi, die im Untertitel des vorliegenden Bandes einen prominenten Ort besetzt, als in doppelter Hinsicht umcodiert: Es geht den Autorinnen und Autoren um Bilder, innere Bilder, die sich in Todesnähe als starke Bilder zeigen und die deshalb für die Betroffenen, Sterbende wie Angehörige und Pflegepersonal, »etwas« bedeuten. Und es geht um die palliative Kunst der religiösen Sterbebegleitung. Dies wird hier als die »Urgestalt« der ars moriendi definiert: »Bilder und die in ihnen sich verdichtenden Geschichten«, die an der Grenze des Lebens »Lebenssinn generieren«, »ohne das Nichtverstehbare und Widersinnige des Todes aufzuheben« (12). Die Gegenstände, die reflektiert werden, sind also überaus fluide: Träume und Visionen, oneiroides Erleben und Nahtoderfahrungen – Phänomene, die hier tentativ als imaginatives bzw. visionäres Erleben eingeordnet werden. Das erkenntnisleitende Interesse ist durchaus praktisch motiviert, fühlen sich doch Sterbende von ihrer sozialen Mitwelt in ihrem Bilderleben oft unverstanden.
Die Beiträge bearbeiten fünf große Fragekomplexe: phänomenologische Fragen (Symbole, Narrative, Formen), ontologische Fragen (Status der visuellen Wirklichkeitsannahmen), theologische Fragen (religiöse Deutungen), ethische Fragen (Handlungsräume) und schließlich die Konsequenzen für die Pastoral bzw. spiritual care. Dementsprechend ist der Band gegliedert: I. Träume und Visionen (Morgenthaler: praktisch-theologisch, Boothe: psychoanalytisch, Peng-Keller: klinische Seelsorge, Kellehaer: Sterbebett-Visionen); II. oneiroides Erleben und seelsorgliche Begleitung (Claussen: kunsthistorische relecture, Schmidt-Degenhardt: psy­chiatrische relecture, Hauser: seelsorgliche relecture); III. Nahtoderfahrungen (Knoblauch: soziologische Empirie, Wils: philosophische Systematisierung).
Die für diese durchaus riskanten Grenzgänge absolut notwendige Einordnung in den aktuellen Diskussions- und Forschungsstand nimmt eingangs Simon Peng-Keller vor (19–43). In medizin-soziologischer Perspektive ist hier zunächst bemerkenswert, dass durch die neuen Reanimationsmöglichkeiten die statistische Wahrscheinlichkeit dieser Phänomene deutlich gestiegen ist. Es ist hier mit etwa 4 % der Bevölkerung zu rechnen. Die dominanten medizinischen Deutungen treten hierbei jedoch in einen Kontrast zu den Selbstdeutungen der Betroffenen einerseits wie zu den theologischen, philosophischen und soziologischen Interpretationen andererseits. Quer dazu liegt der überaus breite mediale Diskurs (Knoblauch spricht hier mit Recht von einer Spielart der »populären Religion«). Die Theologie selbst verhält sich »skeptisch-distanziert«, zu leicht ließe sich – je nach religiöser Couleur – aus den manifesten Erfahrungen apologetisches Kapital schlagen. Reduktionistische Deutungsmuster einer auf psychophysische Prozesse beschränkten Sicht sind in der Medizin verbreitet, bemerkenswerterweise findet sich diese Deutung auch bei dem Pionier der psychoanalytischen Seelsorge Oskar Pfister (bereits 1930). Die »nicht-reduktionistischen« Ansätze (anthropologisch: Kellehear, Knoblauch; parapsychologisch: van Lommel; theologisch: amerikanische Fundamentalisten bzw. Fox, der hier das Wesen mystischer Erfahrung tangiert sieht) bilden die ambivalente Spannbreite von Deutungen visionärer Wirklichkeiten ab. Wie bei kaum einem anderen Gegenstand erweisen sich die Deutungsansätze als von der jeweils favorisierten Weltsicht abhängige Variable.
Das Kernstück des überaus lesenswerten Bandes ist die Fallanalyse einer 87-jährigen Frau, die über ihre »Ahnungen« berichtet. In einer hermeneutischen Doppelperspektive deuten Boothe (63–94) und Peng-Keller (95–120) dieses bemerkenswerte Interview. Liegt hier ein empirischer Beleg für das Widerfahrnis einer mystischen Offenbarung vor, ein Index für »Transzendenz« (Knoblauch)? Es ist ausgesprochen schade, dass dieser Band keinen medizinischen bzw. religionswissenschaftlichen Deutungsansatz zu ebendiesem Fall bietet. Weiterführend hingegen ist der internationale Vergleich, den Kellehear anhand von Studien aus Indien, Moldawien und Großbritannien anstellt. Immerhin zeigen diese Studien, dass über 30 % der Probanden keine »Sterbebett-Visionen« haben.
Die Beiträge dieses Bandes sind im Rahmen eines interdisziplinären Züricher Forschungsprojektes entstanden, das vom Schweizerischen Nationalfond unterstützt wird.