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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

948–950

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schulte, Tobias

Titel/Untertitel:

Ohne Gott mit Gott. Glaubenshermeneutik mit Dietrich Bonhoeffer.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2014. 416 S. = ratio fidei, 52. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-7917-2569-7.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Zu Bonhoeffers Glaubenshermeneutik hat der katholische Theologe Tobias Schulte 2014 eine fulminante Studie vorgelegt, die unter dem Titel »Mit Gott ohne Gott« in der Reihe ratio fidei erschienen ist. In der am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie bei Magnus Striet entstandenen Dissertation werden grundlegende Fragen der Theologie Dietrich Bonhoeffers diskutiert: Wie kann der christliche Glaube unter den Bedingungen moderner Lebenswelten vergegenwärtigt werden? Muss der Mensch faktisch nicht ohne Gott leben? Jedenfalls ohne einen Gott, der handelnd in die Welt eingreift? Das umfangreiche Themenspektrum, das in der zu besprechenden Arbeit aufleuchtet, wird in dem deskriptiveren Titel der Inauguralfassung der Freiburger Dissertation deutlich: »Moderne Kultur im Horizont Gottes. Eine Untersuchung der Theologie Dietrich Bonhoeffers mit Blick auf die Frage der bleibenden Bezogenheit Gottes auf die Ge­schichte in einer ›mündig gewordenen Welt‹.« S. beabsichtigt, in der Analyse von Dietrich Bonhoeffers Gesamtentwurf eine Theologie zu profilieren, die in der modernen menschlichen Freiheitssehnsucht und der biblischen Glaubenstradition keinen Gegensatz erblickt. Die von S. vorgelegten Studien sind von der Überzeugung getragen, dass es mit Bonhoeffer darauf ankomme, sich in die »gesellschaftlichen Prozesse hineinzuschreiben, um sie so gestalterisch mit zu prägen und auf diese Weise einen Beitrag dazu zu leisten, die Rede von Gott nicht verstummen zu lassen« (365).
Im Mittelpunkt der ebenso großen wie großartigen Studie S.s steht auf über 300 Druckseiten die Analyse der »Theologie Dietrich Bonhoeffers« (45–363). Umrahmt wird die substantielle Analyse durch hermeneutische Fragestellungen nach der »Verheutigung« von Bonhoeffers Fragen, etwa im Horizont der Frage nach Gott in der Moderne (15–30) oder dem drängenden Problem der Theodizee (30–37). »Erkenntnisziel« der Untersuchung ist die Klärung der Frage, »ob Bonhoeffer in seiner Theologie eine Denkform implementiert hat, vermittels derer ein Dialog mit »der Moderne« gelingen kann« (41). In drei Durchgängen werden die Anthropologie (45–147), die Christologie (148–312) und die Gotteslehre (313–364) Bonhoeffers analysiert (bzw. – im Hinblick auf die Gotteslehre – rekonstruiert). Sehr fein wird aus der Analyse die immense An­schlussfähigkeit von Bonhoeffers Theologie für gegenwärtige Fra­gestellungen nach dem Menschen, nach Jesus Christus und nach Gottes Allgegenwart, Allwissenheit und Allmacht – ausgehend von der »Erfahrung des Daseins Jesu für andere«, nicht »eines metaphysischen Gottesbildes« (343) – herausgearbeitet. So akzeptierte Bonhoeffer nicht nur das Autonomiestreben des modernen Menschen als »notwendiges Faktum, sondern bejaht es aus theologischen Gründen: Glaube und autonome Welt widersprechen sich nicht, sondern sind vielmehr dazu in der Lage, in einen kritisch-konstruktiven Dialog zu treten« (365), gemäß dem Hinweis Bonhoeffers aus Tegeler Gefangenschaft, dass die »Entwicklung zur Mündigkeit der Welt […] den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt« (DBW 8,534 f.).
Bereits im ersten analytischen Abschnitt zur Anthropologie Bonhoeffers wird die Frage aufgeworfen, ob und wie es der Mensch angesichts einer gesteigerten Selbstreflexivität vermag, sich aus sich selbst heraus zu verstehen. Ausgangspunkt für Bonhoeffer sei die Vorstellung von »Autonomie bzw. Mündigkeit« als »Freiheit des Menschen von einer heteronomen Bestimmung« (106). Dabei falle auf, dass Bonhoeffer diese Freiheit nicht eigens thematisiere. Das verwundere nicht, da Bonhoeffer einen transzendentalen Ansatz verfolge: »Er ermittelt in seiner Theologie […] die unbedingten Bedingungen bzw. zwingenden Voraussetzungen dafür, wie spezifisch humane Vollzüge überhaupt als möglich begriffen werden können.« (106) In diesem Rahmen seien auch die verschiedenen Exkurse der Gefängnisbriefe mit ihren prägnanten Formeln zu verstehen, die etwa die Moral autonom (»etsi deus non daretur«) oder die Naturwissenschaft ohne die »Arbeitshypothese Gott« begründen. Menschliche Freiheit verwirklicht sich für Bonhoeffer allerdings erst dort, wo der Mensch sich aus seiner Freiheit heraus dazu entschließt, »für andere Menschen da zu sein, d. h. andere Freiheiten zu affirmieren. Wirklichkeit erlangt die autonome Freiheit also erst durch die Affirmation eines tatsächlichen Gehaltes.« (110) Ohne diesen bleibt der Mensch in der »Entzweiungserfahrung« stecken. S. zeigt das Dilemma auf, wie nämlich einerseits »die menschliche Freiheit transzendentallogisch in ihrem Dasein auf nichts anderes als sich selbst zurückgeführt werden kann, so dass sie selbstursprünglich ist. Andererseits jedoch erkennt sich der Mensch in seinem Dasein als verdankt.« (129) In diesen Zusammenhang ist auch das bekannte Bonhoefferzitat vom Menschen einzuordnen, der mit allem fertiggeworden sei, »nur nicht mit sich selbst« (DBW 8, 557). Und an dieser Stelle der Analyse Bonhoeffers kommt S. auf die Dilthey-Rezeption zu sprechen, derzufolge »Bonhoeffer den transzendentalphilosophischen Ansatz für seine Überlegungen in Bezug auf die menschlichen Autonomiebestrebungen genutzt« habe (131). S. punktiert im Folgenden aus, was das für seine Beobachtung bedeutet, wonach »Bonhoeffer zu keiner Zeit den Autonomiebegriff verwendet, ohne zugleich die für sein Denken zentrale Aussage der Verwiesenheit des Menschen auf Gehaltlichkeit zu berücksichtigen.« (134) Ein Freisein des Menschen von heteronomer Bestimmung macht ihn in besonderer Weise frei für den Anderen. Der philosophische Ansatz Diltheys eröffne für Bonhoeffer »eine neue Perspektive auf Kant«, da jetzt das Leben der zentrale erkenntnistheoretische Ort ist (135). Die Verwiesenheit des Menschen auf Gehaltlichkeit komme etwa in der Formulierung »Christus und die mündig gewordene Welt« zum Tragen. Das Leben erhält seine Eindeutigkeit in der Beziehung auf Christus. S. zeigt sehr gut auf, wie sich bis in die Gotteslehre hinein der Be­griff der Wirklichkeit bei Bonhoeffer durchzieht. »Eindeutigkeit der Wirklichkeit wird erst durch die Beziehung der Wirklichkeit auf Christus erreicht« (322). Wie es zu verstehen ist, dass das Leben Eindeutigkeit in der Beziehung auf diese Christuswirklichkeit erhält, führt S. im großen christologischen Teil in sehr differenzierter Weise aus. Die Christologie ist gerade kein neuer metaphysischer Referenzpunkt – das wäre »Religion« für Bonhoeffer –, vielmehr erschließt sich über die Lehre von Jesus Christus das Wesen Gottes, ganz lutherisch in seiner Kondeszendenz. Nicht-religiöse Interpretation »als lebenschristologische Interpretation« (210) bedeutet dann ge­rade nicht »Selbstbemächtigung Gottes« durch den religiösen Menschen. Es bedeutet, das Wesen Gottes im Horizont der »Veränderlichkeit Gottes« zu interpretieren, »die Bonhoeffer aufgrund des Kreuzestodes Jesu in Gott voraussetzt bzw. annimmt. Weil Gott in sich selbst die Verlassenheit erfahren hat, ist auch der nichtreligiös lebende Christ dazu aufgerufen, diese Gottlosigkeit in seinem Leben zu akzeptieren und so ›die tiefe Diesseitigkeit des Christentums‹ im Mitleiden mit Gott kennen zu lernen.« (211) Gott wird gerade nicht im mächtigen, erstursächlichen Handeln und aktiven Eingreifen Gottes gesucht. »Sinn«, verstanden als nichtreligiös in­terpretierter Begriff der biblischen Verheißung, hat vielmehr der Glaube in der Niedrigkeit und der Teilnahme am Leiden Gottes in der Welt. So kann Bonhoeffer in »der Gottlosigkeit der modernen Welt eine größere Gottesnähe« erblicken als im »religiösen Gottesbild« der »Arbeitshypothese«, »Innerlichkeit« oder »Metaphysik«. Auch jede Rede von der Wiederkehr des Religiösen müsse – so S. zu Recht – hieran gemessen werden.
Aufs Ganze gesehen ist bereits hinsichtlich der Grundfrage nach der Kohärenz von Bonhoeffers Theologie mit S.s Arbeit ein Markstein gesetzt. Die intellektuelle Herausforderung, die auch darin be­steht, dass eine Theologie Bonhoeffers angesichts der Fragmentarität immer als kohärentes Ganzes zu rekonstruieren ist, gelingt in großer Tiefe und für eine Dissertation erstaunlicher Breite. Auch wenn S. bescheidenerweise, »den Anspruch, eine Gesamtinterpretation der Theologie Dietrich Bonhoeffers« (44) vorzulegen, negiert, gewinnt man als kundiger Leser den Eindruck, dass wieder ein großer Wurf gelungen ist. Und dieser nicht nur im Hinblick auf Bonhoeffer. Es liegt hier durchaus mehr vor als eine »reine« Bonhoeffer-Arbeit. Denn ein Rahmen wird auspunktiert, in dem Bonhoeffer heute gelesen werden kann und soll, gerade angesichts der Diskussion um die Wiederkehr des Religiösen.