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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

938–940

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schweighofer, Astrid

Titel/Untertitel:

Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XXIV, 493 S. = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 126. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-036767-6.

Rezensent:

Hans Martin Dober

»Zwischen 1782 und 1914 [ließen sich] in Wien mindestens 5.920 aus dem Judentum ausgetretene Personen evangelisch […] taufen« (64). Um dieses Phänomen zu verstehen, ist die Deutung in einer komplexen Konstellation von Gesichtspunkten erforderlich. Diese Aufgabe hat die vorliegende Untersuchung auf sich genommen, indem sie die religionspolitischen Entwicklungen in Österreich seit 1781 nachzeichnet, die einen Übertritt rechtlich möglich ge­macht hatten (1–22), die Zuwanderung von Juden aus entlegenen Gegenden der Donau-Monarchie in die Hauptstadt analysiert (23ff.), die spezifische Charakteristik des Protestantismus in Österreich als einer Diaspora-Konfession in einer vom Katholizismus geprägten Leitkultur beschreibt sowie eine Darstellung des Moderne-affinen Ju­dentums bietet, das von Assimilation und Akkulturation (25 ff.) bestimmt war. Der Protestantismus wurde von vielen Konvertiten als die »Konfession der Deutschen« (400) betrachtet, die durch die Werke Goethes, Schillers und Kants präsente deutsche Kultur aber begründete Wahlverwandtschaften zwischen Juden und Protestanten im bildungsbürgerlichen Milieu (62). Derartige Entsprechungen werden durch die breit angelegte Studie von As­trid Schweighofer auch dort belegt, wo der Protestantismus nur »eine Art ›Bewusstseins-Horizont‹« war (91; vgl. das prägnante Zitat 234) wie etwa bei Gustav Mahler, der sich katholisch taufen ließ (196).
Die gesellschaftspolitische Skizze der religiösen Lage der Zeit wird mit Blick auf Wien als Knotenpunkt allgemeiner Tendenzen und Entwicklungen gezeichnet. Bunte Farbe bekommt sie durch exemplarische Einzelstudien: Porträts ausgewählter Persönlichkeiten, die in unterschiedlichen kulturellen Sphären tätig waren, als hätten sie – ein Wort Alfred Adlers bestätigend – »Minderwertigkeitsgefühle durch Höchstleistungen« kompensiert (47). Nicht nur Künstler, Musiker und Komponisten wie Mahler, Arnold Schönberg (184 ff.) und Alexander Zemlinsky (189 ff.) werden in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, sondern auch Philosophen wie Otto Weininger (159 ff.) und Edmund Husserl (155 ff.), Psychoanalytiker wie A. Adler (177 ff.), Naturwissenschaftler wie die Physikerin Lise Meitner (145 ff.), Juristen wie Hans Kelsen (197 f. u. ö.), theologisch arbeitende Autoren wie Egon Fridell (166 ff.) und solche Konvertiten, die in der Lebensreformbewegung tätig waren (310 ff.), bis hin zu Pionieren des Alpinismus wie dem Freiklette-rer Paul Preuß (320 ff.) und dem Skifahrer Rudolf Gomperz (132 f. 326 ff.).
Diese biographischen Miniaturen werden nun ihrerseits perspektivisch differenziert hinsichtlich der Lebensdaten, der offen oder verborgen gelebten Religion, der »konversionsrelevanten Faktoren« (192 ff.) einschließlich der leitenden Motive in einer durch Synkretismen schon gezeichneten religionskulturellen Lage (vgl. 208), doch schließlich auch mit Blick auf religionsphilosophische und theologische Prägungen, wie etwa eine Nähe zur Mystik bei O. Weininger (273 ff.) oder bei A. Schönberg (292 ff.). »Die Entfremdung […] vom Judentum [war] eine Grundvoraussetzung für den Übertritt zum Christentum« (192), und viele Konvertiten vollzogen »diesen Schritt in biographischen Umbruchsituationen« (193). Der Verdacht, hierbei seien vor allem pragmatische Gründe wie die Begünstigung der eigenen beruflichen Karriere ausschlaggebend gewesen, zerschellt an den beeindruckenden Zeugnissen einer Suche nach religiösem Sinn und existentiell tragfähiger Wahrheit des eigenen Lebens. Nur am Rande sei festgehalten, dass die dargestellten Wege zum Christentum nicht durch Judenmission begünstigt worden sind (77–79), wohl aber durch lebendige Gesprächskontexte. Eine der leitenden Thesen besagt, dass die Konversion als Reaktion auf die spezifisch moderne Situation anzusehen sei: »[N]eue Formen identitärer Zugehörigkeit« (43) wurden gesucht. Über die gedruckten Quellen hinaus hat die Vfn. eine Fülle von Archivmaterial verarbeitet, sei es aus der Österreichischen Nationalbibliothek, sei es aus Rathausbibliotheken oder aus Archiven evangelischer Kirchengemeinden, sei es aus dem Churchill Archives Centre Cambridge.
Eine spezifisch theologische Begründung der Konversion wird an E. Fridell gezeigt, der in starkem Maße von Adolf von Harnacks Auffassung der christlichen Liebesreligion wie auch von dessen Marcionismus geprägt war (219 ff.). Er meinte nicht mehr im Ju­dentum, sondern nur noch im Christentum die »wahre Religion« (215) erkennen zu können, und legitimierte vor diesem gedanklichen Hintergrund sein radikales Kappen der jüdischen Wurzeln (vgl. 216 f.). Auch mit Bezug auf Kant und andere Zeugen der deutschen philosophischen Tradition werden Gründe namhaft ge­macht, »wonach die ›vom Formenwesen der Synagoge‹ erdrückten Juden den auf das ›geistige Wesen der Religion‹ ausgerichteten Protestantismus bevorzugen würden« (79).
Ein Marcionismus im Geiste, nicht dem Buchstaben nach, ja »als eine Art biographische Chiffre« (226 f.), findet sich auch bei O. Weininger, dessen Bestseller »Geschlecht und Charakter« »zwischen 1903 und 1947 28 Auflagen erlebte« (105) von Karl Kraus – wie auch von Sigmund Freud – in Wien propagiert und breit rezipiert wurde. O. Weininger wird am Ende der Untersuchung als »die Schlüsselfigur [erkennbar] […], in dessen Werk sich die ganze Problematik des ›Jüdisch-Seins‹ in Wien um 1900 verdichtete« (399). An dieser Person und seinem Werk sind »die Spannung zwischen Selbst- und Fremdbild und die daraus sich ergebenden Identitätskonflikte« (95) zu studieren. Sie ergaben sich aus den »kollektiven Zuschreibungen« (96), die in zunehmendem Maße antisemitischen Charakter angenommen hatten, und der Frage, wie man sich – als Jude – damit sollte ins Benehmen setzen können. Weiningers Option war ein dezidiert »›nichtjüdisches‹ Verhalten«. Durch übernommenen »kulturellen Antisemitismus« (96) – wenn man so will: durch Identifikation mit dem Aggressor – suchte er dem Antisemitismus zu begegnen, der den Kern jüdischer Identität getroffen hatte (47 f.). Anders stellt sich A. Schönbergs Rekonversion zum Judentum 1933 dar, in der sich »möglicherweise«, wie es vorsichtig formuliert heißt, »seine Verbitterung angesichts der auch ihm entgegengebrachten antisemitischen Anfeindungen und des damit offenbar gewordenen Scheiterns der Assimilation wider[spiegele]« (185).
Schönberg ist aber auch eine der exemplarischen Persönlichkeiten, die sich – wie Fridell – mit der Frage der Christologie (331 ff.) auseinandergesetzt haben. Mit Blick auf die Konvertitinnen und Konvertiten könne man von einer »Milieuchristologie« (F. W. Graf nach 349) sprechen, insofern sie »dogmatische Fragestellungen in Bezug auf Person und Heilswirken Jesu Christi […] zugunsten eines affektiven und existentiellen Zugangs hintanstellen«.
»Die historische Person Jesu Christi und sein religiöses Erleben wurden zum Ausgangspunkt […] für die eigene religiöse Identität« (349). Prägend hierfür sind, wie plausibel gezeigt wird, die Weichenstellungen des »Kulturprotes-tantismus« (209 ff.) mit seiner »Betonung der religiösen Mündigkeit und subjektiven Glaubenserfahrung […], dessen Dogmenkritik und ethische Ausrichtung […] wie dessen Offenheit gegenüber der modernen Kultur« (397) gewesen.
Das vorliegende Buch ist nicht nur kirchenhistorischen Spezialis-ten zur Lektüre zu empfehlen, sondern allen an den Transforma-tionsprozessen der Religion in der Neuzeit Interessierten. Sie finden hier die relevanten Faktoren in hohem Konkretionsgrad wie in einem Brennpunkt gebündelt, wie auch fundiertes Hintergrundwissen zur Erkenntnis der Religiosität, die in einer positiv religiös oder konfessionell gebundenen Perspektive unsichtbar bleibt.