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Ausgabe:

September/2016

Spalte:

934–936

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bergjan, Silke-Petra, u. Karla Pollmann [Eds.]

Titel/Untertitel:

Patristic Tradition and Intellectual Paradigms in the 17th Century.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XII, 207 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 52. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150581-2.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die Frage einer modernitätstauglichen Theologietransformation wird spätestens im 17. Jh. angesichts der drängenden Fragen von Frühaufklärung und Pietismus einerseits und einer auf diese Herausforderungen höchst unflexibel reagierenden Orthodoxie un­übersehbar. Insofern die Situation der Spätantike sich analogen Problemen gegenübersah, erhielt die Kirchenväterrezeption einen neuen Impetus. Dieser war sicherlich auch durch die konfessionelle Systemkonkurrenz und ihrer je unterschiedlichen Bewertung der altkirchlichen Tradition angelegt, erfuhr aber im 17. Jh. eine neuerliche Stimulation. Dies haben die beiden Herausgeberinnen des Sammelbandes erkannt und suchen dem Eindruck der willkürlichen Beispielsammlung durch ein die systematischen Bezüge der Beiträge untereinander herausarbeitendes Vorwort zu begegnen. Im Kontext einer insgesamt verstärkten frühneuzeitlichen Historiographie wenden sie sich der Lektüre antiker Texte in diesem Zeitraum zu. Weiterhin beeinflusst von der konfessionellen Sys-tem-Konkurrenz des 16. Jh.s wird die auctoritas patrum zum unverzichtbaren Bestandteil der theologischen Standortbestim­mung und deren normativer, lehramtlicher Begründung. Nicht nur die charakteristische Häufung von Kirchenväterzitaten im frühneuzeitlichen Bildungswesen, sondern vor allem ihre Bedeutung im Kontext der professionellen Wissenssammlung, -sicherung und -vermittlung ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Die unterschiedlichen Rezeptionsgeschichten und -kulturen werden von den ausgewählten Beiträgern im Fokus der Fragestellung nach der Weise behandelt, in der das gewandelte Verständnis der patristischen Texte mit den veränderten Bedingungen ihrer Lektüre zusammenhängt. Notwendigerweise ist nach Kontexten und Me­dien der Rezeptionsereignisse zu fragen.
Die Herausgeberinnen konzentrieren sich dabei auf die Perspektive der interkonfessionellen Auseinandersetzungen, welche für zahlreiche Rezeptionsvorgänge schlechterdings als dominant angesehen werden dürften. Die möglichen Antworten auf diese erkenntnisleitende Frage werden im Referenzwerk nachfolgend zitierter Fragen gesucht:
»Wie beeinflusst die Entwicklung der nicht-theologischen Wissenschaften das Verständnis der antiken christlichen Literatur? Welche Aspekte der antiken christlichen Literatur werden im 17. Jahrhundert verstärkt oder neu berücksichtigt im Vergleich zum 16. Jahrhundert? Was sind die Eigenschaften der für das 17. Jahrhundert charakteristischen Methodendiskussion und des damit verbundenen Modernisierungsprozesses und wie wirken sich diese auf den Umgang mit der patristischen Tradition aus? Inwieweit lassen sich direkte Wechselwirkungen zwischen zeitgenössischen historischen Ereignissen oder Veränderungen im 17. Jahrhundert und der Relektüre der patristischen Texte beobachten? Inwieweit sind für die Kirchenväterrezeption ähnliche oder spezifisch verschiedene Prozesse im Vergleich zu der allgemeinen Antikenrezeption im 17. Jahrhundert festzustellen?« (X)
Die weit ausgreifende Dimension des Fragenkatalogs und die Problembewusstsein dokumentierende Einschränkung, wonach der vorgelegte Sammelband keinen Anspruch auf abschließende Beurteilungen erhebt, täuschen ein wenig über das Grundproblem des Ansatzes hinweg. Dieses besteht nicht im methodisch durchaus reflektierten Zugriff, sondern in der Frage nach dem historisch greifbaren inhaltlich-systematischen Zusammenhang der in den Aufsätzen gesammelten hochinteressanten Einzelbeispiele. Vier thematische Zusammenhänge sind als Teilüberschriften der Sammlung gliedernd übergestülpt worden:
Unter dem Stichwort »Mining Patristics« werden insgesamt drei Beispiele für die Sammlung und Verwertung von altkirchlichem Textmaterial bei Christoph Arnold und seinen vergleichenden Studien, Pierre Bayle in seinem Dictionnaire historique et critique und Alexander Ross in seiner paradigmatischen Referenz zu Augustin benannt. Nicht nur die unterschiedlichen Textgattungen, auch die divergierenden Kontexte und Interessenlagen der gewählten Autoren und ihrer Werke erschweren den Vergleich und lassen die systematischen Zusammenhänge untereinander weitgehend im Dunkeln. Der von Häfner formulierte zusammenfassende Befund, die genannten Beispiele illustrierten nachdrücklich, wie sehr frühneuzeitliche Gelehrte in einem weiten Bogen Quellen, literarische Formen und rhetorische Strategien der altkirchlichen Schriftsteller aufnehmen und weiterverarbeiten (18), dokumentiert eher die methodische Hilflosigkeit angesichts der Fülle an Material denn eine forschungstaugliche Ausgangshypothese.
Der zweite Abschnitt unter dem Titel »Continuity and Critique« versammelt zwei Beiträge, deren einer die Etablierung der frühneuzeitlichen Bibelhermeneutik unter Berufung auf Augustin transdisziplinär als Metawissenschaft rekonstruiert und deren anderer die methodische Anleihe bei der typologischen Schriftauslegung der Kirchenväter für die innerkonfessionelle Kontroverse innerhalb der Reformierten Konfessionsgemeinschaft beschreibt. Der dritte Unterabschnitt versammelt unter dem Stichwort »Working on the Text« zwei Beiträge zur Origenes- und Athanasiusrezeption in der frühen Neuzeit. Im Zentrum stehen freilich nicht die theologische Gemeinsamkeit zweier alexandrinischer Theologen und ihr Bemühen um lehramtliche Festlegungen im Interesse einer umfassenden, katholischen Orthodoxie, sondern der philologisch-antiquarische Umgang mit diesen Texten. Dass diese methodischen Vorgaben auch eine theologische Neubewertung der altkirchlichen Autoritäten nach sich ziehen, liegt nahe. Freilich gerät der übergeordnete Zusammenhang der Sammlung ein wenig aus dem Blick. Das ändert sich auch im vierten und letzten Abschnitt nicht, der unter dem Titel »Direct and Indirect Tradition« verschiedene Rezeptionsweisen und Textvermittlung jenseits klassischer Quelleneditionen oder anderweitig erstellter Sammlungen erläutert. Ein Beitrag wendet sich den Cambridge Platonists zu, während der letzte Beitrag des Sammelbandes das sys-tematisch rekonstruierte Verhältnis von Descartes zu Augustin thematisiert.
Jeder einzelne dieser Beiträge enthält profunde Detailkenntnis, die in ihrem jeweiligen Forschungskontext durchaus von Bedeutung ist. Was dem Sammelband dennoch fehlt, ist der Ansatz einer systematischen Ergebnissicherung. Diese wird im Vorwort zumindest skizziert, im Detail freilich nicht durchgehalten. Damit illustriert auch dieses Sammelwerk, erschienen mehr als 15 Jahre nach den ersten Versuchen einer Wiederbelebung der Frage nach der Bedeutung altkirchlicher Autorität im Wechsel von Mittelalter zur frühen Moderne, die anhaltende Tendenz zur Beispielsammlung und exemplarischen Interpretation. Dabei fehlt allerdings die me­thodisch sorgfältig reflektierte Antwort auf die Frage, warum und in welchem Maße den einzelnen Themenbearbeitungen tatsächlich exemplarische, im Sinne von pars pro toto stehende typische resp. paradigmatische Bedeutung zukommt. Zu Recht werden im Vorwort einige übergeordnete Sachfragen angerissen. Es gelingt freilich letztlich nicht überzeugend, die Einzelbeiträge in ein tragfähiges theoretisches Gesamtkonzept einzuordnen.