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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

841–842

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hall, Eric E.

Titel/Untertitel:

The Paradox of Authenticity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XIV, 223 S. = Religion in Philosophy and Theology, 80. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-153863-6.

Rezensent:

Friedo Ricken

Diese von Ingolf U. Dalferth betreute Dissertation an der Claremont Graduate University beginnt mit einem Wittgenstein-Zitat: »Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen […] und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muss man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?« Eric E. Hall stellt diese Frage nicht für ein Wort (»word«), sondern für den »term ›authenticity‹ and its application to human life and human personality« (1). Seine Heimat, so die These, ist das christliche Leben; in diesem Kontext hat der Ausdruck eine kohärente und konstitutive Bedeutung. Die drei Denker, an­hand deren H. den verschiedenen Gebrauch des Ausdrucks (»various uses of the term«; 6) entwickelt, sind Taylor, Heidegger und Jüngel. Wie aber lautet der gemeinsame Ausdruck, dessen verschiedener Gebrauch hier untersucht wird?
Für Taylor kann H. zurückgreifen auf dessen Buch »The Ethics of Authenticity« (1992). »In Being and Time«, so die Antwort für Heidegger, »the term translated into English as ›authentic‹ is the German adjective eigentlich« (76). Für Jüngel stellt H. fest: »authentic-ity simply forms no direct concern of his«, aber dennoch zeige er durch seine Kritik an Heidegger einen Weg, »in which authenticity finds meaning« (7). Die hier beschriebene Methode setzt einen Begriff von Authentizität voraus, der die Annahme rechtfertigt, dass es diesen drei Autoren trotz ihrer unterschiedlichen Terminologie um dieselbe Sache geht, und der es erlaubt, Konzeptionen von Authentizität zu kritisieren. Authenticity, so formuliert ihn H., »must mean something to the effect of the freedom to live and selfcreate apart from wordly linguistic horizons« (127). Wie kommt H. zu diesem Begriff? Es handelt sich offensichtlich um den im letzten Teil des Buches entwickelten theologischen Begriff; er dient von Anfang an als Maßstab.
Charles Taylor (Kapitel 1) wendet sich gegen ein individualistisches und subjektivistisches Verständnis. Authentizität als Ideal müsse in einen größeren linguistischen Kontext gestellt werden und die authentische Entwicklung des Individuums dürfe nicht in unreflektierten Entscheidungen bestehen; sie müsse sich vielmehr an weiteren moralischen Horizonten orientieren. »In fact«, so H.s Kritik, »if the goal of authenticity is the definitive originality of the person […], the impetus for it must come from beyond the values of the social horizon itself.« (47) – Heidegger (Kapitel 2 und 3) führt nicht über Taylor hinaus. Er kann lediglich das Bewusstsein der Abhängigkeit vom linguistischen Horizont vertiefen, aber er kann nicht von ihr befreien. »[T]here can be no distinction between the ontic and the ontological precisely because the ontological depends in its linguistic and conceptual formation on the ontic and not vice-versa.« (121) – Jüngel (Kapitel 4 und 5) ist »ein leidenschaftlicher Leser von Heidegger« (128); viele seiner theologischen Anliegen führen zu einer fruchtbaren erneuten Lektüre von Heidegger. Er korrigiert einen Fehler von Heidegger, indem er den säkularisierten Begriff der Authentizität in seinen ursprünglichen christlichen Kontext zurückführt, aus dem Heidegger ihn übernommen hat. H. rekonstruiert die Schritte dieser Rückführung: Gott ist ein Gott für uns. Was das bedeutet, wird entfaltet durch die Lehren von der Erwählung, dem Gesetz, dem Evangelium und der Rechtfertigung. Der so interpretierte Begriff »Gott für uns« bildet die Grundlage für einen befriedigenden Begriff der Authentizität. Sie ist »eine Freiheit von dem verbreiteten linguistischen Horizont, die einer als er selbst – als ein Individuum – nicht aus eigener Kraft erreichen kann« (202).
Damit führt die Frage nach der Authentizität zur Frage nach der Transzendenz. Kann das Individuum sein Woher, seinen sozialen Horizont übersteigen und sich selbst erschaffen? Was für einen Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich. Gott allein kann in Wahrheit authentisch sein und so das Individuum authentisch machen. Gott ist authentisch, weil er transzendente Liebe ist. Der Mensch wird dadurch authentisch, dass Gott ihn erwählt und ihm den Glauben schenkt; durch die Erwählung werden wir passiv vom linguistischen Horizont der Welt befreit. Heidegger hat den Begriff aus seinem christlichen Kontext herausgerissen und versucht, ihn zu säkularisieren; er hat ihn aus seinem transzendenten Rahmen »gestohlen« (208) und ihn in seine immanente Eschatologie des Seins zum Tode eingebaut. Worin besteht das Paradox der Authentizität? Philosophisch: Authentisch zu werden ist so etwas wie eine soziale Norm geworden; das Ideal der Authentizität fordert aber, sich von sozialen Normen zu befreien. Theologisch: Authentisch zu werden bedeutet, gerechtfertigt zu werden; selbst aktiv die eigene Rechtfertigung zu suchen ist aber genau der Akt, der bewirkt, dass der Mensch der Rechtfertigung bedarf.