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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

790–793

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Forlivesi, Marco, Quinto, Riccardo, u. Silvana Vecchio [Eds.]

Titel/Untertitel:

»Fides virtus«. The Virtue of Faith from the Twelfth to the Early Sixteenth Century.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. XVII, 524 S. = Archa Verbi Subsidia, 12. Geb. EUR 84,00. ISBN 978-3-402-10228-2.

Rezensent:

Lothar Vogel

Der vorzustellende Band enthält die Beiträge der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Theologische Mediävistik in Padua 2011 über das Verständnis des Glaubens als virtus, d. h. als gnadenbedingter menschlicher Aktivität. Einleitend beschreibt Paolo Bettiolo die patristische Präformation der mittelalterlichen Diskussion. Ein Vergleich der antiochenischen und alexandrinischen Schulbildung ergibt, dass diese in den Überzeugungen konvergieren, dass einerseits eine christliche Lebensführung mit rein menschlichen Kräften nicht realisierbar ist, andererseits jedoch der Christ zu einem seinem Glauben entsprechenden Handeln in die Pflicht genommen wird.
Die erste Sektion des Bandes ist der mittelalterlichen Exegese gewidmet. Hideki Nakamura analysiert die Glaubenskonzeption, die Richard von St. Viktor im Benjamin minor als moralische Auslegung der Beziehung des Erzvaters Jakob, als Inbild des Glaubenden, zu seinen Gattinnen und Kindern entwickelt. Die ersten vier von Lea empfangenen Söhne beschreiben das Voranschreiten von der Furcht über den reuigen Schmerz zur Hoffnung und Liebe; anschließend beschreiben die weiteren mit den Mägden Bilha und Silpa, Lea und schließlich Rahel gezeugten Kinder die Integration der – an sich ungeordneten – Vorstellungskraft und Sinnlichkeit und den Aufstieg zur Gottesschau ( contemplatio). Ein Beitrag von Marcia L. Colish widmet sich den Collectanea des Petrus Lombardus. Sie betont die Breite seiner Begriffsverwendung und eine Sicht des Glaubens als Grundlage sozialen Zusammenhalts, aus dem nicht nur die Juden, sondern auch diejenigen ausscheiden, die sich der Verzweiflung hingeben, die als geistliche diffidatio, d. h. Aufkündigung der Vasallentreue, bewertet wird. Mark J. Clark behandelt die Pariser Frühscholastiker Petrus Comestor und Stephan Langton; anhand der Auslegung der Heilung des Gelähmten (Mt 9,1–7) wird die Frage erörtert, inwiefern der Glaube anderer (d. h. derer, die den Gelähmten zu Jesus bringen) heilsbringend sein könne. Die Antwort ist, dass Erwachsene prinzipiell nur aufgrund ihres eigenen Glaubens zum Heil gelangen, im Zustand der Sünde allerdings nicht eigentlich als erwachsen gelten können.
Für die Hochscholastik behandelt Tiziano Lorenzin die Vorrede Bonaventuras zum Breviloquium, in der die Gleichheit der göttlichen Offenbarung (»Schrift« und geschichtliche »Taten«) im Alten und Neuen Testament sowie eine trinitarische Deutung der drei christlichen Haupttugenden im Anschluss an die von Augustin postulierte analogia fidei zwischen den drei Personen der Gottheit und den drei Dimensionen des menschlichen Geistes hervorgehoben sind. Ferner stellt Fortunato Iozzelli den Glaubensbegriff des Petrus Johannis Olivi dar, der sich durch eine Konzentration auf die willentliche Zustimmung zu einer der Vernunft zwar theoretisch, nicht aber in ihrer Beziehungsdimension zugänglichen Wahrheit auszeichnet. Es folgt ein Sprung ins 16. Jh. zum Römerbriefkommentar des Domingo de Soto, dessen Glaubenskonzeption von Matthew Gaetano im Sinne einer antiprotestantischen Augustin-Rezeption erörtert wird.
Die zweite, der Moraltheologie gewidmete Sektion eröffnet ein Beitrag von Constant J. Mews über Petrus Abaelardus. Dieser betonte die erkenntnismäßige Unvollkommenheit des Glaubens, definierte ihn als »Einschätzung« (existimatio) und zog damit den Widerspruch Hugos von St. Viktor und Bernhards von Clairvaux auf sich. Was Hugo betrifft, so hebt anschließend Fabrizio Mandreoli hervor, dass sich in seiner Konzeption der Glaube in der lectio der Heiligen Schrift konkretisiert. Francesco Siris Studie über Simon von Tournai zeigt, dass dieser Autor die fides als willentliche Zustimmung von einer aristotelisch verstandenen »Wissenschaft« (scientia) und der schlichten »Meinung« (opinio) unterscheidet, sie aber nicht auf den religiösen Bereich beschränkt. Anders als die fides im Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die Simon mit dem Glauben der Dämonen identifiziert (vgl. Jak 2,19), ist der Glaube als Tugend als willentliche Zustimmung zu den unsichtbaren Heilswahrheiten qualifiziert. Die intime Verflechtung von Glaube und Liebe bei Wilhelm von Auxerre und Stephan Langton, soweit es um eine form- und damit tugendhafte Ausgestaltung geht, wird von Magdalena Bieniak analysiert. Anschließend widmet sich Riccardo Saccenti den Summen des frühen 13. Jh.s, in denen die gegenseitige Verknüpfung der Tugenden immer weiter herausgearbeitet wurde. Während Wilhelm von Auxerre den Glauben als Grundlage aller weiteren Tugenden betrachtete, betonte Philipp der Kanzler unter Rückgriff auf Petrus Lombardus, dass die Liebe als formgebendes Prinzip als deren Ursache anzusehen sei.
Der Glaubensbegriff des Thomas von Aquin wird von Thomas Marschler vorgestellt. Abgesehen davon, dass er die Relevanz des Willensaspektes auch bei diesem Denker herausstellt, arbeitet er als Spezifikum des Thomas eine Beschreibung der übernatürlichen Seligkeit in anthropologischen Kategorien, d. h. in der Verfassung des Willens und des Intellekts, heraus. Der Beitrag von Antonio Pappi hingegen ist Duns Scotus gewidmet; bemerkenswert ist das bei ihm erreichte Niveau von Reflexivität, wenn er erklärt, dass die Realität einer gnadenhaften, über die innerweltlich erworbene fides aquisita hinausgehenden fides infusa nicht durch die Vernunft, sondern nur durch die Schriftautorität begründet werden und die Aussage, über sie zu verfügen, ihrerseits nur als Glaubenssatz erfolgen könne. Franz von Meyronne ist Gegenstand einer Untersuchung von William Duba. Unter problematischer Berufung auf Scotus bestritt er die Selbständigkeit der Hoffnung als von Glaube und Liebe unterscheidbarer Tugend und integrierte sie in den Glaubensbegriff. Schließlich befasst sich Christophe Grellard mit Wilhelm von Ockham. Ausgehend von Scotus’ Erörterung der fides infusa hob dieser hervor, dass der »eingegossene Glaube« ohne das Hinzutreten einer fides aquisita nicht selbsttätig werden kann, wie das Beispiel eines getauften und damit über die gnadenhafte Infusion verfügenden, aber nicht im Glauben erzogenen Kindes belege. Der Erwerb der fides aquisita wiederum erfolge naturhaft durch Erziehung und Autorität sowie durch Willensentscheidung. Nicht die sakramentale Vermittlung, sondern die religiöse Bildung und Entscheidung tritt damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die dritte und letzte Sektion des Bandes widmet sich pastoralen Interpretationen des Glaubens. Michael Embach beschreibt die dramatische Umsetzung der Fragestellung im Ordo virtutum der Hildegard von Bingen. Richard G. Newhauser widmet sich der weitverbreiteten Summa de virtutibus des Wilhelm Peraldus, in der der Glaube mit Formen des Unglaubens kontrastiert wird: dem Götzendienst, dem (als Wahn beurteilten) Atheismus sowie der häretischen Infragestellung des Fegefeuers und der kirchlichen Autorität (im 13. Jh. bei Waldensern und Katharern). Carlo Delcorno analysiert die Predigten des Jordanus von Pisa über das Glaubensbekenntnis, in denen die Theologie des Thomas von Aquin an ein breiteres Publikum vermittelt wird. In der Auseinandersetzung mit dem Islam hebt er das dortige Fehlen von Wundern und mystischen Erfahrungen hervor. Insgesamt lassen diese Autoren Fragen der Dogmatik wenig Raum und konzentrieren sich auf unmittelbar existentielle Fragen. Sie erscheinen damit als Vorläufer der »Frömmigkeitstheologie« (Berndt Hamm) des 15. Jh.s. Was die Deutung der drei theologischen Tugenden im 14. Jh. betrifft, so widmet sich Silvia Serventi den poetischen laudes des Bianco von Siena und Charles M. A. Caspers der Devotio moderna. Während der Glaube bei Bianco eine unbestreitbare Zentralität bewahrt, scheint er im letzteren Fall in den Hintergrund zu treten, da er als hermeneutisches und gewissermaßen unpraktisches Kriterium wahrgenommen wird. Zuletzt beschreibt Christoph Burger im Glaubensbegriff des Johannes von Staupitz eine Entwicklung, in der der Tu­gendaspekt durch die Betonung der Gnade in den Hintergrund gedrängt wird. Demgegenüber bleibt Staupitzens Ordensbruder Johannes von Paltz einer konventionelleren Deutung und dem Attritionismus verhaftet.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass dieser hochinteressante Tagungsband durch seine Konzentration auf den »praktizierten« Glauben ein bemerkenswert lebendiges Bild der Scholastik vermittelt. Angesichts der Breite und Qualität der Beiträge bleibt allein zu bedauern, dass der religiöse Dissens (Waldenser, John Wyclif, Hussitentum) keine Berücksichtigung gefunden hat.