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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

982–984

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Huber, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche.

Verlag:

Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 1998. 335 S. gr.8. Geb. DM 44,-. ISBN 3-89204-828-2.

Rezensent:

Joachim Rogge

Das Buch enthält Zeitanalysen, Problemerörterungen und Lösungsvorschläge zu Fragen des Miteinanders von Kirche und Gesellschaft. Die Leitbegriffe für die Generalthematik finden sich angemessen wiedergegeben schon im Untertitel: Es geht um die Akzeptanz und Aufgabe gesellschaftlichen Wandels und dringlicher Erneuerung der Kirche. Beides wird in den Ausführungen Hubers bejaht und mit einer ganzen Phalanx von weiterführenden Reflexionen versehen. Gesellschaftlich unterliegt gegenwärtig vieles dem Wandel, und daraus - allerdings nicht nur daraus! - erwächst die bisher nicht energisch genug angegriffene Not-Wendigkeit kirchlicher Erneuerung.

Noch ein Weiteres ist vor einer inhaltlichen Evaluierung des übersichtlich und instruktiv geschriebenen Buches wichtig: Das ist der Autor, Theoretiker und Praktiker der angesprochenen Materie gleichzeitig. Der Professor der Theologie (mit dem Schwerpunkt Sozialethik und Ethik) hat auch als Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg sein Nachdenken über ekklesiologische Problembereiche in Vorträgen, Symposien und Aufsätzen in die Gegenwartsdiskussion eingebracht. "Vorarbeiten" zum vorliegenden Buch sind im Anhang bibliographisch nachgewiesen (329 f.). Gewiß nicht mit der inhaltlichen Füllung, aber vom Thema her bestätigt H. das wichtige Fragen nach der Kirche, wie es Otto Dibelius in seinem oft aufgelegten Buch über "Das Jahrhundert der Kirche" (268) vor einem Dreivierteljahrhundert anmahnte und einforderte.

Das Vorliegende ist nun aber trotz aller historischen Reminiszenzen von Aristoteles, Luther, Descartes, Kant, Hegel und Schleiermacher bis zu den Quellenbänden von Ernst Rudolf Huber und Wolfgang Huber zu "Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts", 5 Bände, Berlin 1973-1995 (46), keine Summe des bisher zur Sache Gedachten, sondern eher ein Griff in die Speichen unter kritischer Beleuchtung wohl fast aller Lösungsversuche, die gegenwärtig en vogue sind.

Das Buch erscheint im Rahmen eines Projekts der Bertelsmann Stiftung mit dem anspruchsvollen Titel "Geistige Orientierung ... Darin werden Lösungen und Lösungskonzepte für zahlreiche Krisen der modernen Gesellschaften erarbeitet, die sich zusammenfassend als Orientierungsverlust bezeichnen lassen. Wie wir diese Krisen überwinden können, die mit Wertewandel und dem Verlust von Sinnhorizonten eng verbunden sind, ist eine der Fragen, an denen sich unsere Zukunft entscheiden wird." (333)

H. schreibt sein Buch mit der Überzeugung, daß die "Kirchen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr über ein Sinnstiftungsmonopol" verfügen (9), "aber ihr Beitrag zur geistigen Orientierung bleibt unverzichtbar. Dieser Beitrag kann nur wirksam werden, wenn die Kirchen den gesellschaftlichen Wandel wahrnehmen und die Kraft zur Erneuerung aufbringen." - Das eingangs Deklarierte wird klar und überzeugend über viele Seiten erläutert und kulminiert in ebenso deutlich zu beherzigender Anweisung zum Handeln angesichts heutiger gesellschaftlicher Vorfindlichkeiten, die es ernstzunehmen gilt. Nicht dem nur einer Verinnerlichung zustrebenden Trend kirchlichen Neuwerdens wird das Wort geredet, sondern der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung der Kirche in dreifacher Hinsicht. In den Blick zu holen ist die "Bildungsverantwortung der Kirche", die "politische Verantwortung der Kirche" und die "Verantwortung der Kirche für eine Kultur des Helfens" (293-328). Was H. am diakonischen Handeln der Kirche auf der letzten Seite seiner Darstellung festmachen möchte, ist pars pro toto eine Verstärkung "der ganzheitlichen Zuwendung zum Menschen" (328), die die Kirche in der säkularen Gesellschaft der Neuzeit immer wieder versäumt hat.

Heil und Wohl der Menschen gehören zusammen. Deshalb ist für alles kirchliche Handeln festzuhalten: "Die Hoffnung auf Heil wird wieder ebenso ernst genommen wie die Sehnsucht nach Heilung." Deshalb auch war es nicht von ungefähr, sondern gehörte hinein in den Rahmen der Intentionen des Buches, daß die Bertelsmann Wissenschaftsstiftung, die Evangelische Akademie Berlin und der Verfasser am 24. Februar 1999 eine stark beachtete Podiumsdiskussion veranstalteten, die darauf gerichtet war, "wie die Kirche ihren Orientierungsaufgaben gerecht werden kann, und welchen Platz sie dabei in der Gesellschaft einnehmen muß" (Text des Einladungsblattes).

Der Vf., der gut nachweisbar bei Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth viel gelernt hat, wendet sich im Blick zurück nach vorn Schleiermachers Ansatz zu, dem im Rahmen seines Glaubens- und Kirchenverständnisses entscheidend wichtig war: "Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn: das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?" (188) Kultur und Religion, beides im weitesten Sinne des Wortes, bei H. freilich nicht ohne christologische Konzentration, gehören eben doch zusammen, auch angesichts mancher Irrwege im Kulturprotestantismus vergangener Zeiten: "Die Religion läßt sich ins Denken so wenig auflösen wie ins Handeln. Dennoch stehen Religion und Denken, Glaube und Bildung nicht beziehungslos nebeneinander. Kaum eine Sorge hat Schleiermacher stärker umgetrieben als die Furcht davor, daß der Glaube mit der Unbildung, die Bildung aber mit der Gottlosigkeit sich verbünden werde. Was später als ,Kulturprotestantismus’ bezeichnet wurde, war in seinem Ursprung ein wirkungsmächtiger Versuch, Glaube und Bildung, Frömmigkeit und Kultur, Spiritualität und Weltgestaltung miteinander zu verknüpfen. In der Kühnheit dieses Versuchs ist das Erbe Schleiermachers unaufgebbar."

H. hält sich nicht auf mit kritischen Anmerkungen angesichts der Trends und Faktizitäten unter den Leitbegriffen Säkularisierung, Individualisierung (10 f.) und Pluralisierung (12). Er arbeitet die Aufgaben der Kirche in dieser Situation heraus, und das ist das Verdienst des Buches, das auch alle diejenigen begrüßen werden, die auf Grund anderer Problemerkenntnisse zu anderen Ansätzen kommen.

Der Vf. sieht als Auswege aus der Sinnkriese "Drei Aufgaben der Kirche":

1. "Die Kirchen sind herausgefordert, den Menschen persönliche Gewißheit zu vermitteln und sich an der Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Leitbild zu beteiligen." (11) "Für die evangelische Kirche ergibt sich aus einer Konzentration auf das Glaubensthema vor allem eine Korrektur der Selbstsäkularisierung, in der dieses Thema oft hinter moralischen Appellen verschwand." (12)

2. "Im christlichen Glauben ist ein Verständnis menschlicher Freiheit enthalten, das Individualität und Sozialität, Selbstbestimmung und Verantwortung für den Nächsten miteinander verbindet." Dem hat die Kirche Rechnung zu tragen.

3. Die Kirche kann nicht umhin, "die Sozialformen des christlichen Glaubens zu erneuern". Als hauptsächlichen Beitrag dazu versteht H.: "Der Gottesdienst ist die grundlegende Sozialform des christlichen Lebens", und "Die Kultur des Helfens ist die wichtigste Verdeutlichung dieses Gottesdienstes im Alltag" (13) - "... neue Gemeinschaftsgestalten des Glaubens" wären "zu entwickeln".

Öffnung und Konzentration kirchlicher Arbeit betont der Vf. gleicherweise. Er läßt dabei wiederum kaum einen Leitbegriff heutiger Diskussion in Kirche und Gesellschaft aus: Wertewandel, Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, demokratischer Kommunitarismus, Finanzkrise, Mitarbeiterkrise, Kirchenmitgliedschaft, Kirche als staatsanaloge oder intermediäre Institution, Kirche und Zivilgesellschaft ... Das alles sind nur einige der aufgegriffenen und erläuterten Termini, die inner- und außerkirchlich heiß erörtete Gegenstände sind. Der Rez. kann die gehaltvollen Ausführungen dazu in dem vorgegebenen Rahmen nicht der notwendigen Gewichtung entsprechend wiedergeben, aber neugierig darauf machen, was H. zu dem allen zu sagen hat. Von seiner Konzeption her liegt es nahe, daß er aus vielen Gründen den Religionsunterricht in der Schule befürwortet. - Eine erstaunliche Belesenheit in den Beiträgen zur kontemporären Problemlage macht das Buch zusätzlich wertvoll.

Am Schluß eines einleitenden Resümees stellt H. sein Buch mitten hinein in das kirchliche und gesellschaftliche Erfordernis der Zeit. Er weist die Dimensionen auf, innerhalb derer er verstanden werden möchte: "In der Wende des Jahres 1989 und im Prozeß der Vereinigung Deutschlands ist den Kirchen - und in besonderer Weise der evangelischen Kirche - eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zugewachsen. Jetzt geht es darum, diese Aufgabe nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Zusammenhang zu sehen und weiterzuentwickeln" (16).