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Ausgabe:

Juli/August/2016

Spalte:

754–755

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Otto

Titel/Untertitel:

Philo von Alexandrien. Denkender Glaube – Eine Einführung.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 331 S. n. 2 Ktn. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 259. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-54041-1.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Mit diesem Buch macht sich der renommierte Alttestamentler Otto Kaiser an die Aufgabe, eine längst überfällige Einführung in Leben und Werk Philos zu geben. Kaiser ist »bestrebt, nicht nur die Lehren seiner philosophischen Gewährsmänner, sondern auch seine Aussagen über seine Umwelt mit den verfügbaren antiken Quellen zu vergleichen« (20). Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt: 1. Leben und Schriften, 2. Umwelt, 3. Lehre.
K. gibt zu, lange von dem allegorischen Ansatz Philos abgestoßen worden zu sein und erst über Philos Glaube einen Zugang zu ihm gefunden zu haben. Seine Absicht ist, »Philo als einen tief in den Vorstellungen seiner Zeit verwurzelten Gelehrten vorzustellen, der seine Leser durch seine nicht voneinander zu trennende Menschlichkeit und Frömmigkeit über die Jahrhunderte hinweg zur Selbstprüfung und zur Gelassenheit des Glaubens anzuleiten vermag« (20). Das Problem dieses Ansatzes liegt darin, dass sich die Vorstellungen von Frömmigkeit und insbesondere von Glauben seit Philos Zeit drastisch geändert haben. Auch stimmt der von Kaiser postulierte »Glaube an den persönlichen Gott«, der Philo zum »Urbild aller biblischen Theologen […], die ihren Glauben denkend vertreten« (20) macht, nicht ohne Weiteres mit dem platonischen Gottesbild Philos überein, demzufolge sich Gott zwar über den in der Thora offenbarten Logos erkennen lässt, aber dennoch immer transzendent bleibt.
Eine »Einführung« dient dazu, wichtige Aspekte eines Denkers vorzustellen. Der Aufbau des Buches und die Absicht, Philo im Kontext seiner Zeit wahrzunehmen, ist grundsätzlich diesem Ziel zuträglich. Doch wenn man nach dem kurzen Einleitungsteil zu Philos Leben und Werk (25–42) die einzelnen Abschnitte des zweiten Teils zu Philos Welt liest (43–154), findet man keine Konzentration auf das Wesentliche, sondern eine Bandbreite von Themen, vom Selbstverständlichen, zum Willkürlichen bis hin zum Unwesentlichen: So ist es als selbstverständlich vorauszusetzen, dass Philo die Großfamilie kannte, doch hat das keine direkte Bedeutung als Hinführung zu seinem Denken; auch die Rolle der Jungfrauen, eine Diskussion des Ehebruchs oder des Erbrechts hat weder für Philos Leben noch für sein Denken Relevanz (51–62). Gleichfalls ist es selbstverständlich, dass Philo wusste, dass es in Alexandria Marktplätze und andere in antiken Städten übliche Gebäude gab (49–51). Diese distanzierte Schilderung Alexandrias schlägt dann unvermittelt in eine Kontemplation der Rolle dieser Orte in der Judenverfolgung unter Flaccus um (43–61). Die objektive Darstellung des Kontextes und die subjektive Darstellung Philos stehen einander unverbunden gegenüber, und der Leser ertrinkt förmlich in einer Flut von Informationen.
Umgekehrt werden fundamentale Stellen, wie Philos Stellung-nahme zur Allegorese in Migr. 89–92 mit keinem Wort erwähnt; auch werden der für Philo so wichtigen allegorischen Methode insgesamt nicht mehr als sieben Seiten gewidmet (155–158.161–163). Die erziehenden Wissenschaften, denen Philo eine ganze Schrift gewidmet hat (Congr.), werden weder nach der antiken Einteilung noch nach Philos Schrift behandelt, sondern als Liste von Stichwörtern: Lehrer und Schüler, Gebildete, Philosophen, Geschichte der Philosophie, Geometrie, Astronomie und Astrologie (62–81). Es folgt eine Übersicht über die Dichter und ihre Götter (82–90), über die »praktischen Berufe« (91–97), »Leistungssport und Musik« (98–103), Krieg, Waffen und Soldaten (104–107), zu den »Randgruppen der Gesellschaft« – Sklaven, Prostituierten, Päderasten und Verbrechern (108–117), den Pflanzen (118–124) und Tieren (125–141). Jedes einzelne dieser Kapitel ist länger als die anschließende Übersicht über die »Kennzeichen jüdischer Existenz« (142–148), Letzteres ein sehr viel wichtigeres Thema für Philo, dem er allein in der Gesetzesauslegung mehr als fünf Bücher gewidmet hat. K. schließt den Teil zu Philos Welt mit der Betonung, dass Philo ein Leben nach dem Gesetz der Natur und der Thora des Mose anpreist (149–152) und dass Philos »denkender Glaube« (151 f.) auf »ewiges Leben« ab­zielt (152). Der dritte Teil dient dazu, diese Schlussfolgerung an­hand von Philos Denken zu belegen, wobei K. nicht berücksichtigt, inwieweit Philos Vorstellung von »Glaube« oder »ewigem Leben« dem von K. vorausgesetzten Verständnis entspricht. Eine Übersicht über den Begriff »Glaube« bei Philo fehlt gänzlich.
Der dritte Teil behandelt Philo als Exegeten (155–166), seine mittelplatonische Kosmologie (167–182), seine Gotteslehre (183–196), seine Anthropologie (197–212), Ethik (213–249), Haltung zur Politik (250–258), Heilserwartung (259–265), bevor die Gedanken erneut unter dem Aspekt des »denkenden Glaubens« zusammengefasst werden (266–278) und das Buch mit Aspekten der Bedeutung Philos für das Neue Testament schließt (279–284). Auch hier ist die Be­handlung der einzelnen Themen ungleich. So gibt es zu den meis­ten Themen dieses Teils philosophische Hintergrundinformationen, insbesondere zur Kosmologie eine Behandlung von Eudorus und der Weisheit Salomos, doch ein so fundamentales Konzept für Philo wie der Logos wird lediglich ohne viel Hintergrund auf drei Seiten erörtert (174–177).
Somit bietet K. viel Material aus Philos Schriften zu Gotteslehre, Anthropologie und dem Allgemeinwissen, das sich in ihnen widerspiegelt, folgt jedoch nicht der Gewichtung Philos. Als Lesehilfe für Philoeinsteiger stellt dieses Vorgehen eine Herausforderung dar. Auch wird wichtige Literatur zu Philo von K. nicht immer verwendet. Eine so übersichtliche und anschauliche Einführung zu Philo wie die von M. Hadas-Lebel (Philo of Alexandria. A Thinker in the Jewish Diaspora, Studies in Philo of Alexandria 7, Leiden 2012) bleibt unberücksichtigt. Auch der Forschungskonsens wird nicht immer einbezogen. Ein Beispiel dafür zeigt sich darin, dass die mittlerweile in der Philoforschung als Standard angenommene Unterteilung der Schriften Philos in allegorischen Kommentar, Gesetzesauslegung, sowie philosophische und historische Schriften nicht erwähnt wird. Anstelle dessen wird eine problematische und schwer am philonischen Text belegbare Datierung der Schriften in »erste Periode«, »Zwischenzeit« und »Spätzeit« vorgenommen (30–40). Die Ausführung im Einzelnen weist Flüchtigkeitsfehler auf, insbesondere in den Verweisen zu Quellen und Sekundärliteratur (so wird Philos Schrift »Quod omnis probus liber sit« auf S. 233 »Ut omnis probus liber sit« genannt).
Insgesamt ist das Buch eine eklektische Übersicht über das Vorkommen bestimmter Themen und Begriffe bei Philo. Oftmals liest es sich wie eine Zusammenfassung einer Begriffsrecherche. Als solche bietet sie interessante und gelegentlich skurrile Einblicke in Philos Werk für Kenner der Materie, als Einführung für Leser ohne Hintergrund im hellenistischen Judentum ist dies weniger hilfreich.