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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

701-702

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Domsgen, Michael, u. Ekkehard Steinhäuser [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Identitätsraum Dorf. Religiöse Bildung in der Peripherie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 177 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-03918-0.

Rezensent:

Ralf Kötter

Die Zukunft ländlicher Räume wird auf allen Ebenen intensiv diskutiert. Im politischen Sektor entstehen neue Förderkulissen angesichts einer öffentlichen Infrastruktur, die schon lange nicht mehr finanzierbar ist und dringend einer Reorganisation bedarf. Diakoniewissenschaftliche wie soziologische Neuansätze plädieren für eine partnerschaftliche Vernetzung der Kompetenzen, die sich in ihrer Professionalität zu Konkurrenzen versäult haben. Und auch Theologie und Kirche ringen um zukunftsfähige Strategien angesichts des massiven Traditionsabbruchs und einer nicht mehr aufzuhaltenden Erosion von Dienstleistungsangeboten in der Fläche. Allen Ansätzen gemeinsam ist die Einsicht, dass sich gelingendes Menschsein nicht in Versorgung, sondern in Teilhabe und Partizipation erfüllt.
Der nun vorliegende Band besticht durch zwei Aspekte: Zum einen nimmt er sich eines wesentlichen Defizits des bisherigen Diskurses an, indem er unterschiedliche Perspektiven interdisziplinär ins Gespräch bringt. Zu sehr agieren die diversen Fachrichtungen noch nebeneinander, obwohl ihre inhaltlichen Ansätze ähnliche Perspektiven aufweisen und sich gegenseitig bereichern und ergänzen können. Der Sammelband stellt Beiträge einer religionspädagogischen Fachtagung der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom Oktober 2013 zusammen, bei der theologische, sozialgeographische und religionspädagogische Aspekte mit Überlegungen aus kirchenleitender Perspektive kombiniert wurden.
In dieser interdisziplinären Grundierung kommt dem Bildungsbegriff eine zentrale Bedeutung zu, um Kommunikationsprozesse in ländlichen Räumen zu deuten – eine verheißungsvolle Schwerpunktsetzung, die die zweite Besonderheit des Bandes bildet: Die Betrachtung kirchlichen Handelns wird unmittelbar aus der binnenorientierten Selbstreflexivität befreit, die ihre Ursachen in der Theologie des 19. Jh.s findet (wie Christian Grethlein sehr überzeugend darstellen kann, 147 f.), die in einer weitgehenden Restauration der Kirchlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht überwunden wurde und die als eine der wesentlichen Ursachen heutiger Finanz- und Relevanzkrise gelten darf. Durch die Berücksichtigung des Bildungsbegriffs tritt dagegen die Dienstbarkeit kirchlichen Handelns für die Subjektwerdung des Individuums konsequent in den Fokus. Zugleich ermöglicht die Rezeption des Bildungsbegriffs den Perspektivenwechsel von einer defizitorientierten Mangelverwaltung hin zu einem potential- und ressourcenorientierten Neuarrangement, in dem ländliche Räume partizipativ und nachhaltig zu gestalten sind.
Auch wenn man den Eindruck bekommen möchte, dass in einzelnen Beiträgen vielleicht immer noch diffuse Restaurationshoffnungen und Re-Evangelisierungs-Tendenzen durchschimmern, so sensibilisiert die Gesamttendenz des Buches doch den Blick klar für ein extrovertiertes kirchliches Handeln fern jeder institutionellen Selbstbehauptung. Abseits von binnenorientierten Zielen wie Mitgliederbindung und Gebäudeerhalt werden Chancen einer ganzheitlichen Kommunikation des Evangeliums unter aktuel-len gesellschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich. Und wenn gleichzeitig die bislang »unerhörte« Frage gestellt wird, ob künftig an jedem Ort noch eine traditionelle kirchliche »Versorgung« aufrechterhalten werden kann, zeugt das von der Praxisnähe und dem Realitätssinn der Verfasser im Blick auf ländliche Räume, die (auch in den alten Bundesländern) schon lange nicht mehr als kirchliche Stammgebiete bezeichnet werden können.
Abschließend fassen die beiden Herausgeber wesentliche Im­pulse der Diskurses in drei Handlungsorientierungen zusammen: 1. Das Evangelium kann unterhaltend kommuniziert werden – wobei den neuen Medien künftig eine elementare Bedeutung zu­zukommen scheint. 2. Das Evangelium kann unterstützend kom­muniziert werden – wobei der Lebensdienlichkeit und der diakonischen Dimension kirchlichen Handelns auch im gemeindlichen Kontext eine stärkere Bedeutung zukommen darf. 3. Das Evangelium kann vernetzt kommuniziert werden – wobei der Kreis potentieller Kooperationspartner weit zu ziehen und der Verpflichtung binnenorientierter »Institutionenlogik« (174) zu widerstehen ist.
Weit über die rurale Sondersituation Mitteldeutschlands hinaus deutet sich mit diesen Visionen das Bild eine Volkskirche mit anderen und für andere an. Wenn eine zeit- und bedarfsgerechte, lebensdienliche und ganzheitliche Kommunikation des Evangeliums in dieser Form möglich ist, dann könnten solche Experimente in peripheren Gebieten geradezu zum Paradigma einer transformierten Gesellschaft der Zukunft heranreifen, in der Teilhabe und Vernetzung großgeschrieben werden – auch in urbanen Räumen.