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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

688-689

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Jochen

Titel/Untertitel:

Wahrgenommene Individualität. Eine Theologie der Lebensführung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 119 S. = Edition Wege zum Menschen, 3. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-525-67017-0.

Rezensent:

Niklas Schleicher

Jochen Schmidt unternimmt in vorliegendem Bändchen auf weniger als gut lesbaren hundert Seiten den Versuch, theologische und philosophische Einsichten in die Probleme und Notwendigkeiten individueller Lebensführung zu skizzieren. Selbst bezeichnet er das Buch als »Miniatur zur Theologie der Lebensführung« (12). Damit behandelt er eine Frage, die im systematisch-theologischen Nachdenken doch reichlich kurz kommt, nämlich die danach, was gutes Leben ausmacht. Im Fokus seines Buches stehen also weniger die Fragen, die an Grenzsituationen des Lebens auftreten, die Fragen, an denen sich ethisches Nachdenken vor allem abarbeitet, sondern eben das Nachdenken darüber, was denn nun, vielleicht auch im Rückblick, ein Leben als gelungenes charakterisieren lässt.
Der Einsatzpunkt für die vorliegende Miniatur ist, wie es der Titel andeutet, die Beobachtung, dass sich menschliche Lebensführung eng mit der Frage nach Individualität verknüpft. Die These des Vf.s ist, dass sich das Gelingen oder das Misslingen von Lebensführung am Wahrnehmen von Individualität messen lässt. Diese Idee, die zunächst recht lapidar erscheint, in der aber sehr viel mehr steckt, als es auf den ersten Blick scheint, wird im Buch entfaltet. Denn gerade das Wort »wahrnehmen« trägt unterschiedliche Be­deutungen in sich, die für die Entfaltung des Themas von großem Wert sind und die auch in verschiedener Weise abgerufen werden. So oszilliert »wahrnehmen« zwischen Wahrnehmen von anderem im Sinne von Erkennen und Verwirklichen auf der individuellen, eigenen Seite. Außerdem hat Wahrnehmen im ersten Sinne natürlich eine enge Verbindung zum Sehen, zum Erblicken, die im vorliegenden Entwurf stark mit dem Scheitern von gelingendem Leben verknüpft sind.
Der Vf. teilt das Buch in fünf Kapitel. Im ersten Kapitel (13–28) wird zunächst die individuelle Freiheit, die im Kontext der Ge­schöpflichkeit des Menschen verhandelt wird, grundgelegt. Aus dieser Freiheit ist es dem Menschen aufgegeben, »etwas mit [sich] an[zu]fangen« (21). Dieses Moment als Selbstverwirklichung zu beschreiben kann allerdings in die Irre führen, da das Selbst, das als Objekt »erschaffen« werden soll, und das Selbst, das als Subjekt »schafft«, in Distanz zueinander stehen. Vielmehr ist der Selbstentwurf nur im Horizont des schon vorhandenen Selbsts zu verwirklichen. Wenn ein Mensch sein Selbst als seinem Bild von sich entsprechend wahrnimmt, kann von gelingendem Leben gesprochen werden.
Dies gilt auch, so führt der Vf. im zweiten Kapitel (29–43) aus, im zwischenmenschlichen Bereich. Die Würde des Menschen ist fundiert in der Achtung des Menschen, in der Achtung ihres Rechts auf »Selbstdeutung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung« (40). Als Sünde kann dann dementsprechend im dritten Kapitel (44–71) der Verlust der Freiheit beschrieben werden, sich selbst zu gestalten und der Fähigkeit die Freiheitsvollzüge anderer zu achten. Selbsttäuschung ist vor der skizzierten Folie eine Be­schreibung für die Sünde des Menschen. Der Mensch täuscht sich selbst, wenn er den »Kontakt zu sich und zu seinen tatsächlichen Möglichkeiten sukzessive verliert« (66). Aus dieser Beschreibung der Sünde als Selbsttäuschung folgt als Konsequenz im vierten Kapitel (72–90) die Beschämung als Akt, bei dem der Mensch die »Souveränität […] über seine Selbstdarstellung« (72) verliert. Ein beschämter Mensch wird so wahrgenommen, wie er eigentlich nicht sein will, sich nicht selbst beschreiben will. Durchbrochen wird dieser Kreis aus Selbstverfehlung und falscher Beschreibung des Selbst durch Vergebung (Kapitel 5, 91–97), die dem anderen einen neuen Anfang ermöglichen kann.
Die Lektüre des Buches ist ein großer Gewinn, zumal es sehr stringent Lebensführung unter dem Aspekt der Selbstbestimmung zu beschreiben versucht und unter dieser Perspektive auch die christliche Tradition in interessanter Weise ins Gespräch bringt.
Eine Frage stellt sich: Lässt sich das Scheitern des eigenen Lebens wirklich nur unter der Prämisse der misslingenden Individualität beschreiben? Unglücksfälle, Schicksalsschläge, aber auch Krankheiten kommen so kaum in den Blick.
Dennoch kann dieses Buch, gerade auch z. B. im Zusammenhang mit Gesprächsabenden in der Gemeinde, mit großem Gewinn gelesen werden, wenn man den für knapp 90 Textseiten etwas hohen Preis von 20,00 EUR verschmerzt.