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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

686-688

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Große Kracht, Hermann-Josef [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2014. 270 S. = Sozialtheorie. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-8376-2519-6.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Laux, Bernhard [Hrsg.]: Heiligkeit und Menschenwürde. Hans Joas’ neue Genealogie der Menschenrechte im theologischen Gespräch. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2013. 224 S. = Veröffentlichungen der Papst-Benedikt-XVI.-Gastprofessur an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-451-34148-9.


Das Erscheinen von Hans Joas’ Studie »Die Sakralität der Person« (vgl. ThLZ 137 [2012], 1122–1125) und einer Reihe von Studien zur Religionstheorie hat in Theologie, Philosophie und Sozialwissenschaften eine breite Diskussion ausgelöst. Beide hier vorliegenden Bände nehmen diese Diskussion in unterschiedlichen Facetten auf. Beide Bände sind gleich aufgebaut, insofern Hans Joas am Ende jeweils selbst die Gelegenheit erhält, die Kommentare und Thesen seiner Diskussionspartner in Zustimmung, Ablehnung, Erweiterung zu kommentieren.
Der von Bernhard Laux herausgegebene Band versammelt Mitglieder der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Regensburg und konzentriert sich dementsprechend auf die theologische Rezeption von Joas’ Werk, dem in diesem Band Gelegenheit gegeben wurde, seine Thesen am Anfang nochmals bündig zu präsentieren (14–24). Der von Hermann-Josef Große Kracht herausgegebene Band enthält die überarbeiteten Vorträge einer Tagung an der Technischen Universität Darmstadt aus dem Jahr 2012. Darin antwortet Joas (243–264) auf Anfragen aus dem Bereich der Philosophie, der Rechtswissenschaften und der Theologie.
Joas’ These von der Sakralität des Menschen hat eine historische, eine anthropologische und eine theologische Dimension. Historisch erzählt sie eine neue Genealogie der Menschenrechte, anthropologisch fragt sie neu nach der Disposition des Menschen und theologisch liegt ihre Faszination darin, dass sie sich konfessionellen Zuschreibungen verweigert und offen ist für eine Vielfalt von Religionen. Insofern sind auch Joas’ Forschungen zur Verknüpfung von Erfahrung und Religion in die These von der Sakralität des Menschen einzubinden. Gleichzeitig mit der inhaltlichen These ist nach der Methodik der Genealogie zu fragen, die in Joas’ Sicht formal-rationalistische Begründungsmodelle nicht nur der Menschenrechte überwinden will.
Der Dialog mit den Regensburger Theologen verspricht nun deshalb einiges, weil man Joas’ Werk eine gewisse katholische Grundierung oder Affinität nicht absprechen kann. Am Regensburger Band überzeugt nun der historische Beitrag von Klaus Unterburger (42–63), welcher Schluss macht mit dem Vorurteil einer starren Opposition zwischen katholischer Kirche und revolutionärer Bewegung im Frankreich des 18. Jh.s. Der Beitrag des Herausgebers Bernhard Laux (144–166) macht jedoch deutlich, dass nicht alle katholischen Ethiker sich auf Joas’ Wertetheorie verständigen können, sondern häufig auch von anderen sozialphilosophischen Referenztheorien Gebrauch machen, was folgerichtig zu kritischen Bemerkungen gegenüber Joas’ Genealogiethese führt. Das wird im Gegenüber von Laux’ These und Joas’ Replik sehr deutlich, zumal die Kontroverse auf die Verknüpfung von (systematischer) Argumentation und (historischer) Narration zielt, also gerade den Punkt, an dem Joas in seinen Menschenrechtsbüchern eine neue Konzeption einführen will.
Genau darum, um das Verhältnis von Argument und Narrativ, geht es, mit einem stärker an der Bildungs- und Erzähltheorie geschulten Blick, auch Johannes Först und Heinz-Günter Schöttler (181–208), die Joas’ Thesen in eine theologische Nacherzählung des Exodusgeschehens integrieren. Leider können hier aus Platzmangel nur einzelne Beiträge hervorgehoben werden, was auch für den folgenden Band gilt.
Der Darmstädter Band vermag deshalb besonders zu interessieren, weil er über die Theologie hinaus andere Fächer in die Diskussion einbezieht und weil in ihm eine Reihe von evangelischen Theologen zu Wort kommt. Christian Polkes Studie (153–169) über den Einfluss von Ernst Troeltsch auf das Denken von Joas kommt auf die Kritik der ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte so zu sprechen, dass sie die Begründung des Rechts von weiteren Werten und soziologischen Überlegungen neben der Sakralität der Person abhängig macht. Polke ist kritisch eingestellt gegenüber allen »politisch-theologischen Deutungen von Rechtstexten und deren Sakralisierungsvokabular« (162, Anm. 12). Das aber wirft er Joas – im Gegensatz zu den Thesen des Würzburger Juristen Ralf Dreier – auch nicht vor, er sieht nur die Gefahr der theologisierenden Überformung von Legitimationsmustern der Menschenrechte. Zumal Joas nach Polkes Deutung einer Soziologie zuzurechnen ist, die – wie Durkheim und Bellah – einen »moralischen Auftrag verfolgt, ohne dabei das Postulat der Werturteilsfreiheit ihrer Forschung zu unterminieren.« (164) Nicht zufällig verweist Polke am Ende seiner Studie dann auf H. Richard Niebuhr.
Neben Polke zielen mehrere andere Beiträge des Darmstädter Bandes auf den prekären Begriff der Begründung. Hier findet sich im Übrigen ein gemeinsamer Punkt mit mehreren Beiträgen der Regensburger Diskussion. Joas versucht im Begriff der Genealogie der Menschenrechte historische und argumentierende Elemente ihrer Legitimation im Sinne einer wertorientierten Soziologie voranzubringen. Damit grenzt er sich von rationalistischen und schematischen Begründungskonzepten ab. Deswegen beruft er sich auf die Soziologie Émile Durkheims und auf die theologische Kulturphilosophie Ernst Troeltschs. Viele der Darmstädter Beiträge sind dadurch charakterisiert, dass sie sich genau an diesem Punkt in Zustimmung und Kritik abarbeiten (Lohmann, Kettner, Raimondi, Koenig, Große Kracht).
Eine andere Frage, die sich durch die Beiträge zieht, ist die nach dem Verhältnis von Theologie und Soziologie bei Joas. Stephan Goertz schreibt: »Joas argumentiert nicht als Theologe, aber durchaus theologisch.« (209) Das scheint sowohl Soziologen wie auch Theologen als in beide Richtungen übergriffig zu beunruhigen, wenn nicht zu verstören. Solche Zuordnungskontroversen scheinen allerdings eher ein Symptom als der Kern der Debatte zu sein.
Letzterer, und damit die Originalität von Joas’ Ansatz besteht in der Verknüpfung einer Genealogie genannten Begründungsstrategie der Menschenrechte mit einer spezifischen Wertorientierung, die sich in pluralistischer Offenheit nicht mehr an bestimmte Religionen oder Konfessionen zurückbindet, sondern sich auf neue Strategien historischer Argumentation festlegt, die das Gespräch zwischen inhaltlich differenten Wertekonzeptionen nicht nur nicht ausschließt, sondern geradezu sucht.
Insofern erscheint Joas’ Position in beiden Bänden, in seiner eigenen wie in der Sicht seiner Diskussionspartner, am Ende nicht als ein fertiges, abgeschlossenes Produkt, sondern als eine Kombination von (historischer) Spurensicherung und Planungsüberlegungen. Denn es wäre weiter zu überlegen, ob sich neben Troeltsch und Niebuhr nicht noch weitere theologische Positionen finden, die diese produktive Spannung zwischen Genealogie und Wertorientierung auf ihre Weise ausgebaut haben.
Und es wäre zu überlegen, ob solche Verfahren, die Joas für Anthropologie und Menschenrechtstheorie praktiziert hat, nicht auch auf andere politische und soziale Institutionen anzuwenden wären. Die Beispiele dafür lägen auf der Hand: die Verknüpfung von Bundestheologie des Alten Testaments und der Theorie der Demokratie, insbesondere mit der amerikanischer Prägung, Gewaltenteilung und das System gegenseitiger Kontrolle, die alte Frage nach den natürlichen Rechten des Menschen, dann die Verbindung von allen Arten pädagogischer Bildungstheorie mit theologischen Konzepten der Persönlichkeit, schließlich die Verknüpfung von Konzepten der Krankheit, der Pflege und des menschlichen Leidens mit anthropologischen des Menschenbilds, wie sie sich in Krankenhauskonzeptionen und Pflegeethik abzeichnen. Schließlich wäre die in letzter Zeit in Mode gekommene öffentliche Theologie darauf zu befragen, wie sich bei ihren Vertretern Wertorientierung, Genealogie und Legitimationsmuster zueinander verhalten und welche theologischen Themen deshalb in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken.
Die Überlegungen von Joas und seinen Gesprächspartnern lassen ein Forschungsprogramm erahnen, das weit über die Menschenrechte hinausweist – und dennoch immer mit diesem Thema verknüpft bleibt.