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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

683-685

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Eissa, Tina-Louise

Titel/Untertitel:

Gesünder, intelligenter, perfekt?Selbstgestaltung durch Enhancement im Kontext pluralistischer Ethik.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Karl Alber 2014. 580 S. = Angewandte Ethik, 16. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48652-8.

Rezensent:

Stephan Schleissing

Als Tina-Louise Eissa ihre philosophische Dissertation zum Thema »Enhancement als Form menschlicher Selbstgestaltung« im Jahre 2012 bei Bernhard Irrgang an der TU Dresden einreichte, steckte die Methode der sogenannten Genom-Editierung noch in den Kinderschuhen. Drei Jahre später ging ein Beben durch die Forschung, als die Nachricht öffentlich wurde, dass eine chinesische Forschergruppe unter Einsatz der Designernuklease »CRISPR-Cas« das Erbgut menschlicher Embryonen manipuliert hatte, um einen Erbdefekt zu korrigieren. Seit dieser Zeit schreitet die Verbesserung dieser Methode in punkto Sicherheit und Effizienz stetig voran. Und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wann diese Gentherapie auch beim Menschen zum Einsatz kommt. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob dieser technische Fortschritt auch als moralischer Fortschritt verstanden werden kann.
Für die Beantwortung dieser Frage fungiert E.s profunde Arbeit als Fundgrube. Ihr Thema ist das ethische Verständnis von »Enhancement«, das sich nicht nur auf die Verbesserung menschlicher Fähigkeiten erstreckt, sondern vor allem die gezielte Optimierung der menschlichen Konstitution zum Gegenstand hat. E. spricht von einem »biotechnologischen Zeitalter«, um anzuzeigen, dass die für die Menschheit immer schon charakteristische Praxis der Selbstreproduktion mit Hilfe von Technik und Technologie seit dem Ende des 20. Jh.s in ein neues Stadium getreten ist. Während die Möglichkeiten des Neuro-Enhancements, also z. B. operative Eingriffe am Gehirn, chip-ge­steuerte Implantate, Doping oder die Einnahme von Psychopharmaka, heute bereits zum Einsatz kommen, waren die Mög­lichkeiten eines genetischen Enhancements bisher äußerst begrenzt. Ob Eingriffe ins menschliche Erbgut mit Hilfe der Genom-Editierung, die nicht medizinisch-therapeutischen Zwecken, sondern der Verbesserung gesunder Menschen dienen, nach heutiger Rechtslage in Deutschland zulässig sind, wird auch davon abhängen, wie die ethische Diskussion über diese Frage in der Gesellschaft verlaufen wird.
E.s umfassende Studie ist klar gegliedert und folgt in ihrem Argumentationsgang der von Irrgang konzipierten Methode einer »hermeneutischen Ethik« (2007). Von Bedeutung ist vor allem die gesellschaftstheoretische Selbstverortung, die E. in ihrer Vorbemerkung vornimmt. Im Anschluss an Wolfgang Welsch plädiert sie für die »Denkweise der postmodernen Moderne«, weil sie davon ausgeht, »dass die Mitglieder der Gesellschaft weder gemeinsame Bindungen noch gemeinsame Weltanschauungen und Grundvorstellungen vom Guten und Gesollten teilen […]« (41).
Den Vorteil postmodern-modernen Denkens erblickt sie diesbezüglich in der fälligen Verabschiedung des anthropischen Prinzips, das u. a. dazu führt, dass die menschliche Konstituiertheit von Moral mit ihrer exklusiven Geltung nur für den Menschen gleichgesetzt wird und nicht auch weitere Lebensformen umfasst. Stattdessen plädiert E. für Eigenrechte unterschiedlichster Ordnungen und Lebensformen sowie für die konsequente Bejahung eines subjektiven Wertepluralismus und einer Politik, die als »Instrumentarium des Differenten« in der Lage ist, die »Koexistenz des Unterschiedlichen und des Widerstreits« anerkennungsfähig zu machen (42).
Im zweiten Teil der Arbeit (55–92) erläutert sie zunächst das Technikverständnis, das ihrem Enhancement-Begriff zugrunde liegt, sowie die ethische Methode der Untersuchung. E. wählt ihren Ansatz bei einer praktischen anwendungsorientierten subjektiven Ethik, weil sie Anwendungsfragen nicht prinzipienorientiert be­werten, sondern aus der jeweiligen Situation, in der eine be­stimmte Lebensform für den Betroffenen zum Thema wird, klären möchte. Dementsprechend fokussiert sie zur Beschreibung des ethischen Konflikts vor allem auf Bedürfnisse bzw. psychologische Eigenschaften und Werte, die von den Einzelnen als Interessen artikuliert werden. Als Ziel dieser Methode treten nun »ethische Faustregeln als argumentative Plausibilisierungsstrategien, so dass sich implizites Umgangswissen manifestiert«, anstelle in normativer Absicht auf Letztbegründungen abzuheben (84).
Im dritten Teil (95–164) entwirft E. insgesamt 15 Kategorien des Enhancements, die in den vier Anwendungspraktiken des Phäno-, Neuro-, Epigenetischen und Genetischen Enhancements in un-terschiedlichen Kombinationen auftreten und die Strategien der Selbstgestaltung sowohl auf individueller als auch auf Gattungsebene bestimmen.
Ausführlich fällt schließlich der vierte Teil (169–453) aus, der mit »Deuten und Werten« überschrieben ist. Hier re-feriert sie zunächst unterschiedliche Zuordnungen von Körper, Seele, Geist, Subjektivität und Leiblichkeit in den philosophischen Anthropologien von der Vorzeit bis zur Gegenwart. Anschließend wird das Verhältnis von Enhancement zur Gattungsethik, zum Argument der Natürlichkeit und zur Menschenwürde beleuchtet, indem E. die wichtigsten Argumente und Gegenargumente der Debatten zwischen den biokonservativen und bioliberalen Positionen gegeneinander abwägt.
Bezüglich der Analyse der metaphysischen oder religiösen Konzepte kommt sie dabei zu dem Schluss, dass »weder auf generelle Ablehnungen noch auf generelle Zustimmungen bezüglich verschiedener Enhancement-Praktiken […] geschlossen werden kann. Vielmehr scheint ein Sowohl-als-auch mit gewissen Tendenzen in die eine oder andere Richtung vorherrschend zu sein, was darauf hindeutet, dass auch in nicht rein säkular zu begründenden Theorien Pluralismus vorherrscht.« (452) Dieses, für E. zumindest partiell überraschende, Ergebnis verdankt sich der Differenziertheit ihrer Analysekategorien. Deren komplexe Anwendung ist zwar bisweilen mühsam zu lesen, schützt den Leser gleichwohl vor stereotypen Urteilen.
Der fünfte Teil (457–508) widmet sich abschließend der Möglichkeit eines umfassenden Konsenses zwischen den bioliberalen und biokonservativen Positionen, den E. in der Denkform des »Posthumanismus« bejaht. Faktisch dient ihr diese Denkform als bioliberale Entgrenzung der Dichotomie zwischen bioliberal und biokonservativ.
Angesichts der Prämisse, dass Pluralität und Autonomie in Be­zug auf das subjektive Wohlergehen des Einzelnen unhintergehbar sind, relativiert E. biokonservative Argumentationen zu Spielarten individueller Orientierungen des Wohlergehens. Anders gesagt: Wer in Fragen der Optimierung der eigenen Selbstgestaltung konservativ optiert, verfolgt damit letztlich auch nur seine eigene persönliche Lebensorientierung. Denn moralphilosophisch relevant ist für E. zuletzt nur die durch die Gesellschaft zu garantierende Möglichkeit, dass jedermann und jede Frau ihre zwischen den verschiedenen Formen des Enhancements selbst wählen kann. Voraussetzung dafür ist dreierlei: die Achtung von Autonomie, die persönliche Erkenntnisfähigkeit des Enhancement nutzen Wollenden und die Eignung zur Erlangung des individuellen Wohls. »[W]enn definitiv sichergestellt ist, dass diese drei Plausibilitäten erfüllt sind, stelle ich – im Sinne der Akzeptanz der Pluralität – abschließend fest: In dubio pro libertate.« (518)
Diese Schlussfolgerung bleibt jedoch unbefriedigend: Denn mit der Möglichkeit, dass diese drei »Plausibilitäten« eben nie »definitiv sichergestellt« sind, ist das charakteristische Geschäft einer anwendungsorientierten Ethik erst angemessen be­schrieben. Nicht die Verweigerung von Autonomie ist das eigentliche Problem, sondern die immer gegebene Möglichkeit, die Bedingungen eigenen Wohlseins eben nicht vollständig selbst durchschauen, geschweige denn herbeiführen zu können. Diese Dif­ferenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit begründet die Anfragen an Enhancementstrategien, die mit irreversiblen Operationen am eigenen Selbst arbeiten.
Am Ende ihrer Studie räumt E. selbst ein, dass eine individual-ethische Verengung des Themas zu Problemen führen kann. Sie unterschlägt dabei die voraussetzungsreichen Implikationen ihres eigenen Autonomiebegriffs, der in der bloßen Selbst-Wahl schon die individuelle Gewissheit über das Gutsein der eigenen Entscheidung findet. Wenn es in concreto so einfach wäre! Rechtliche Einschränkungen z. B. beim genetischen Enhancement, wie sie durch eine sozialethische Reflexion zu diskutieren wären, dienen daher nicht der Aufhebung individueller Autonomie, sondern ihrer Versicherung auch angesichts von solchen Konsequenzen, die sich gegen die Achtung der immer auch kontingent zu denkenden Individualität des Einzelnen ergeben können.