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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

634-636

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Huijgen, Arnold, u. Fesko, John V., u. Aleida Siller[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Heidelberger Katechismus. Aus d. Niederl. übers. v. G. Baumann, A. Merz u. M. G. Ruf.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. 410 S. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-579-08154-0.

Rezensent:

Traugott Schächtele

Protestantische Theologie spricht von ihren Bekenntnisschriften nicht selten ähnlich ehrfürchtig wie die römisch-katholische von ihren Heiligen. In dieser Hinsicht ist das Handbuch Heidelberger Katechismus (HK) durchaus eine Art evangelischer Heiligsprechung dieses unbestritten hochbedeutsamen Textes. In wissenschaftlicher Perspektive ist es ein Fazit des aktuellen Stands der Erforschung wie der aktuellen Bedeutung dieser am meisten verbreiteten (ursprünglich) deutschsprachigen Bekenntnisschrift.
Der in Apeldoorn lehrende Arnold Huijgen, John V. Fesco aus Kalifornien und die mittlerweile bei der EKD arbeitende Aleida Siller legen gewissermaßen als Abschluss-Veröffentlichung eine Zu­sammenschau dessen vor, was es über den HK derzeit zu wissen, zu bewerten und zu debattieren gibt. Das Verzeichnis der teilweise hochkarätigen Autorinnen und Autoren listet 36 Namen auf, die für insgesamt 34, meist knapp zehnseitige, Beiträge verantwortlich zeichnen (der Beitrag des dort aufgeführten renommierten Calvin-Forschers Herman J. Selderhuis erschließt sich aus dem Buch nicht). Auf welche Beiträge sich der Hinweis »Aus dem Niederländischen übersetzt« bezieht – in dieser Sprache ist das Handbuch zuerst erschienen, eine englischsprachige Ausgabe folgt –, ist nicht ersichtlich; vermutlich haben die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren ursprünglich doch wohl in ihrer Muttersprache geschrieben und wurden danach ins Niederländische übersetzt.
Ein Handbuch will seinem Anspruch nach im Kleinformat eine einschlägige Fach-Bibliothek ersetzen – und wird im vorliegenden Fall dieser Herausforderung in vorbildlicher Weise, nicht zuletzt auch durch ein Register der behandelten Fragen und Antworten des HK, gerecht. Die Systematik dieser kleinen Bibliothek zum Heidelberger Katechismus unterscheidet drei Abteilungen: In der ersten (»Geschichtliches«) werden die Rahmenbedingungen der Entstehung und der Rezeption dargestellt, in der zweiten (»Theologie«) geht es um das, was der Heidelberger Katechismus theologisch aussagt und worüber er schweigt, in der dritten (»Praxis«) wird gewissermaßen die Verwertbarkeit auf den Prüfstand gestellt. Damit wird klar, dass ein grundsätzlicher Blick von der Meta-Ebene unterbleibt. Zur Debatte steht in allen Beiträgen nicht das »ob«, sondern das »wie« der Rezeption des HK. Nicht ob Katechismen überhaupt noch eine Möglichkeit sind, sondern wie der HK alle anderen überragt und bis heute als paradigmatisch angesehen werden muss, ist das Thema des Handbuches. Das Handbuch führt– auch der Knappheit des Umfangs der Beiträge wegen – we­niger in das theologische Labor als vielmehr in die wissenschaftliche Sammlung. Letzteres tut es jedoch Beispiel gebend und kenntnisreich.
Es ist schon bewundernswert, wie Lyle D. Bierma und Charles D. Gunnoe, Jr. in der ersten Abteilung auf knappstem Raum den Stand der Forschung zur Verfasserschaft referieren. Verantwortlich für die Erarbeitung des Textes war demnach ein Team, in dem Zacharias Ursinus eine herausragende Rolle einnimmt, während die von Caspar Olevianus nach neueren Erkenntnissen stark zu relativieren ist. Dafür ist die mit guten Argumenten belegte Bedeutung des Thomas Erastus, des theologisch überaus gebildeten vormaligen Leibarztes des Kurfürsten, die eigentliche Überraschung. Christoph Strohm wiederum wirft einen kundigen Blick in die damalige wissenschaftliche Welt der Universität und der kirchenleitenden Gremien, so dass man sich die Fakultät und den Kirchenrat lebhaft vorstellen kann. Es fällt schwer, Strohms Herausarbeitung der positiven Folgen der durch Flucht veranlassten gegenseitigen Be­einflussung, Durchdringung und Weiterverbreitung theolo-gischer Sichtweisen nicht als Argument in die politischen Aktualitäten einzubringen.
Die zweite, theologische Abteilung geht zum einen der Aufnahme theologischer Einzelthemen (Vater, Sohn, Geist, Gesetz Gottes, Heil, Sakramente etc.) und der zugrunde liegenden theologischen Stücke (Zehn Gebote etc.) im HK nach. Bedeutsam erscheinen mir vor allem drei Zugänge. Zum einen Georg Plasgers Analyse des Schriftgebrauchs des HK, die im Kern eine eigene kleine Hermeneutik liefert. Der Weg geht nicht von der Schrift zum HK, sondern umgekehrt: Der Katechismus ist in den direkten Zitaten wie in den mehr als 850 biblischen Randverweisen eine Lesehilfe, die zu einem (besseren) Schriftverständnis führen soll.
Erneut ist es Lyle D. Bierma, der den Forschungsstand zu den Quellen des HK liefert. Über die bekannte Bedeutung der beiden Vorläufer-Katechismen von Zacharias Ursinus bezieht sich der HK auf ein breites, und keineswegs nur reformiertes, Portfolio von Katechismen – explizit benannt werden sieben weitere – und theologischen Werken reformatorischer Zeitgenossen (neben den Schweizern und Melanchthon auch Luther) mit zum Teil wört-lichen Übereinstimmungen. Die momentan übliche Plagiats-Hysterie stößt im theologischen Kontext da an ihre Grenzen, wo offenbar wird, dass die Grundlagen des Glaubens nicht in erster Linie originell, sondern vor allem auch traditionsgewiss und -offen sein müssen. Der HK spiegelt, so Bierma, aber nicht einfach nur den Wandel zu einer anschlussfähigen Spielart reformato-rischen Glaubens wider, er hat diesen Wandel zuallererst auch befördert.
Den spannendsten, weil für die Gegenwart die größte Relevanz bietenden Blick liefert mit Michael Weinrich eine der derzeit wohl bedeutendsten reformierten Stimmen in der deutschsprachigen Theologie. Er fragt nach dem, worüber der HK schweigt. Er tut das in einer zweifachen Bewegung, indem er zuerst die Perspektive des Entstehungsjahrhunderts einnimmt und die Lücken im Rahmen der damaligen reformatorischen Theologie auflistet. Zugleich bricht er aber die im Handbuch vorherrschende, eher selbstreferentielle Sichtweise auf, indem er fragt, zu welchen Themen der Aktualität der HK schon allein deswegen schweigt, weil diese zum Zeitpunkt seiner Entstehung noch nicht bedeutsam oder existent waren. Hier verweist er auf die – in aktuellen Dogmatiken in den Prolegomena offengelegte – theologische Erkenntnistheorie, zu deren Themen u. a. auch die reflexive Auseinandersetzung mit dem gehört, was wir heute »Frömmigkeit« nennen; genauso aber auch das Thema Religion an sich, nicht zuletzt das Thema der Offenbarung. Die Liste des aus einsehbaren Gründen nicht Berücksichtigten wäre insbesondere hinsichtlich ethischer Themen (Krieg/Frieden etc.) noch zu ergänzen.
Der Beitrag von Weinrich hätte eine eigene vierte Abteilung gerechtfertigt, in die auch noch aus der Abteilung Geschichte die instruktiven Beiträge von Hans-Georg Ulrichs zur Geschichte der Kritik des HK sowie von Matthias Freudenberg zu den Beispielen der Neuinterpretation zu überführen wären. Aus der dritten Abteilung, die sich der Praxis des Umgangs mit dem HK widmet, wären die Beiträge von Marco Hofheinz zur ökumenischen Bedeutung (neben der umstrittenen Frage 80, die sich mit der »vermaledeiten Abgötterei« der Messe beschäftigt, wird hier auch auf die etwa im Lima-Papier rezipierte ökumenische Anschlussfähigkeit der Drei-Ämterlehre verwiesen) sowie von Arnold Huijgen und John V. Fesko zur grundsätzlichen und bleibenden Bedeutung des HK einzustellen. Letztere sehen diese in seinem auf Trost ausgerichteten existentiellen Charakter und seiner – auch zur Vermittlung zwischen Konfessionen geeigneten – Ausgewogenheit, nicht zuletzt in der damit verbundenen Entlastung, die darauf beruht, dass ich nicht der authentische, auf Selbstdarstellung setzende Garant meiner eigenen Erlösung sein muss.
An der Ausrichtung dieser zuletzt genannten sowie der in dieser nicht vorhandenen vierten Abteilung noch zu ergänzenden Beiträge zur Nachhaltigkeit und zur Zukunftsfähigkeit des HK wird sich seine bleibende Relevanz vor allem entscheiden.