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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

630-631

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Graves, Michael

Titel/Untertitel:

The Inspiration and Interpretation of Scripture. What the Early Church Can Teach Us.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2014. VIII, 201 S. Kart. US$ 24,00. ISBN 978-0-8028-6963-0.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

Michael Graves nimmt die Inspiration der Bibel als den grundlegenden Bezugspunkt, von dem aus sich die Praxis der Bibelauslegung in der Alten Kirche als deren »logische Folgerungen« begreifen lasse. 20 solcher Folgerungen identifiziert er und hat dazu fleißig Aussagen in der altkirchlichen Literatur gesammelt. Sein Gesprächshorizont sind ernsthafte Bibelleser, die er aus ihrem fundamentalistischen Idiosynkretismus herauslocken möchte. Das Buch ist lebendig geschrieben; die illustrierenden Belege sind ausführlich zitiert. Für den Normalpatristiker könnte interessant sein zu sehen, welche evangelikalischen Fragen schon von den Kirchenvätern gestellt wurden. Für eine Einführung in die altchristliche Schriftauslegung reicht es jedoch nicht aus. Es handelt sich eher um Wegmarken, die G. im Blick auf heute beurteilt.
Es geht um die »Schrift« und wie sie bei Annahme ihrer Inspiriertheit ausgelegt wurde. Im Einleitungskapitel wird festgestellt, dass das Neue Testament keine methodisch umsetzbaren Wegweiser zum Auslegen des Alten Testaments gebe (7–8). Deswegen geht G. im 2. Kapitel von der Nützlichkeit aus ( 2Tim 3,16–17). Hier wird deutlich, dass unter »Scripture« das christliche Alte Testament der Gegenstand der Untersuchungen ist. Aber nirgends wird erklärt, warum die frühen Christen die hebräische Bibel der Juden in Gestalt der Septuaginta als Altes im Unterschied zum Neuen Testament einstuften. Das Problem, zu dem die altkirchlichen Bibelausleger befragt werden, erweist sich als das Problem heutiger alttestamentlicher Exegeten. Die altkirchlichen Bibelausleger werden scheinbar nach ihren exegetischen Methoden durchgesehen, aber es wird nicht präzise nach den philologischen Methoden gefragt, sondern nach den »logischen Folgerungen« ( entailments) aus dem Grundsatz der Inspiriertheit des Alten Testaments. So ergeben sich fünf Kapitel, denen die Beobachtungen untergeordnet werden. Deren Themen sind: »Nützlichkeit« (Kapitel 2), »Die spirituelle und übernatürliche Ebene« (Kapitel 3), »Ausdruckformen« (Kapitel 4), »Faktische Historizität« (Kapitel 5), »Übereinstimmung mit der Wahrheit« (Kapitel 6). Öfters wird bei exegetischen Operationen der Kirchenväter auf theologische Gründe hingewiesen, aber sie werden nicht ausformuliert.
Ich greife drei von den 20 »logischen Folgerungen« heraus. Als sechster Abschnitt (unter Kapitel 3) wird beobachtet, dass oft die göttliche Erleuchtung für die Auslegung gefordert wurde. Dazu wird 2Kor 3,14–18 vorangestellt. Es ist aber nicht gefragt, warum allein der Gottes Geist die spirituelle Ebene eröffnen kann.
Abschnitt 11 (unter Kapitel 4) führt vor, dass Gott in zeitloser Weise zum Sprecher der Bibeltexte gemacht wird. Es wird verkannt, dass es die Auslegungsmethode, einen Autor bzw. ein Werk aus sich selbst zu erklären (wie »Homer aus Homer«), ist und warum sie für die Bibelauslegung aufgenommen wurde (vgl. § 16 in B. Neuschäfer, Origenes als Philologe, 1987). – Abschnitt 20 »Scripture’s Teaching Must be Worthy of God« (unter Kapitel 6) sei eine antik philosophische Regel für die Homerlektüre und werde bei Origenes zu einem hermeneutischen Grundsatz, in beiden Fällen die allegorische Auslegung begründend. Tatsächlich aber handelt es sich um die philologisch-rhetorische Tradition, die auf das, was dem Charakter der »redenden Person« angemessen ist, achtet (vgl. Neuschäfer, § 15).
In den zusammenfassenden Schlussfolgerungen (131–147) stehen erbauliche Ratschläge an die alttestamentlichen Exegeten, unter heutigen Bedingungen über die Inspiration des biblischen Textes nachzudenken. Denn wegen der »logischen Folgerungen«, die in der Alten Kirche gezogen wurden, könne diese Vorstellung nicht repetiert werden. Aber lernen könnten wir viel, um das Alte Testament verantwortungsvoll und in liebevoller Demut auszulegen. Ich zitiere zwei Sätze: »Responsible Christian interpretation of Scripture involves genuine contact with the ad litteram sense of the text, focus on Jesus as guide and ultimate subject matter, a teach-able spirit with respect to Christian traditions and communities, and careful theological and moral reasoning.« (137) Hier wird zugegeben, dass Christen das Alte Testament im Lichte der neuen Offenbarung Gottes in Jesus Christus lesen sollen.
»As modeled by Origen, the mysterious insight that allows us to perceive the meaning of the gospel for us in Scripture comes through prayer and receptivity to divine illumination.« (137) Als reformatorischer Theologe würde ich sagen, dass Gott selber das Aufleuchten des Evangeliums bewirkt.
Abschließend wird in frommen Worten empfohlen, »die Demokratisierung des christlichen Lebens« und »die Realität des Pluralismus« anzuerkennen (147).