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Ausgabe:

Juni/2016

Spalte:

594-596

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Quack, Joachim Friedrich, u. Daniela Christina Luft [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erscheinungsformen und Handhabungen Heiliger Schriften.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. VII, 349 S. m. Abb. = Materiale Textkulturen, 5. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-037124-6.

Rezensent:

Bertram Schmitz

Bei diesem Sammelband handelt es sich um Artikel, die aus einem Workshop hervorgegangen sind, der vom Sonderforschungsbereich 933 »Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz in non-typographischen Gesellschaften« veranstaltet wurde. Im Vorwort der Herausgeber wird bereits auf die »fachliche Vielfalt der Teilprojekte« verwiesen, die sich auch in der entsprechenden Mannigfaltigkeit der Beiträge widerspiegelt. Der Lesende wird in unterschiedliche Kulturen hineingeführt, bei denen in vielen Fällen zunächst einmal festgestellt werden muss, inwiefern in ihnen etwas vorhanden ist, das mit dem klassischen Terminus der Heiligen Schriften angemessen bezeichnet werden kann.
Zunächst führt die Einleitung von Daniela C. Luft in die Ge­samtproblematik ein. Da sich der Begriff des Heiligen einer »klaren Definition« entziehe (5) formuliert sie für das weitere Vorgehen: »Wenn Religion einen Bezugsrahmen bildet, der […] das Alltägliche um eine Sinnebene erweitert […], bilden Heilige Schriften nicht weniger als diesen Zusammenhang in komprimierter Form ab« (7). Auf solcher einer Grundlage zeigen die Artikel, dass sich diese Abbildung bei vielen der vorgestellten Religionskulturen eher qualitativ-punktuell zeigt als umfassend und allgemein. Im Weiteren werden nicht die Inhalte der Texte ins Zentrum gestellt werden, sondern deren Form als deren materielle Umsetzung in Stein oder auf Papier, oder auch deren Positionierung und Fixierung im Raum.
Ebenfalls noch auf der Metaebene handelt der Artikel von Peter Haupt über »die Kognition von Heiligem und ihre sozio-biologischen Aspekte in der Vor- und Frühgeschichte«. Er fragt nach dem »Vorteil« (43), den die Komponente des »Heiligen« der Menschheit verschafft. Dabei kommt er zu elementaren Gegebenheiten, wie etwa die Absicherung von gefährlichen Übergängen, seien sie im­materiell wie Lebensphasen oder materiell wie Brücken: »Wer Fluss und Brücke als etwas Heiliges betrachtet und entsprechend vorsichtig, am besten ritualisiert nutzt, hätte dann im Einzelfall weniger Unfälle und ein längeres Leben« (49). Diese Aussage ist nüchtern, aber weiterführend. Durch Schrift lassen sich solche Komponenten über Generationen hinweg verfestigen und weitergeben.
Nils P. Heeßel schreibt über »Amulette und Amulettform« und stellt etwa die Bedeutung von Schutzamuletten »im Alten Mesopotamien« vor (55.59 ff.), wobei explizit die Wirksamkeit der Amulette schon in den alten Texten (hier dem Erra-Epos) angesprochen wird (62). Dabei wurde bereits das Schreiben des Amuletts als »magisch wirksame Handlung« angesehen (63) und durch »Einbeziehung der Götter« in seiner »Wirksamkeit letztlich [als] göttlich bewirkt und legitimiert« (70).
Holger Kockelmann handelt über die Bedeutung des Leinens als Textträger im Alten Ägypten um die Zeitenwende, etwa anhand von Briefen, die an Tote geschickt wurden, denn nach »ägyptischer Überzeugung waren die Verstorbenen über die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits hinweg kontaktierbar und in der Lage, in den Verlauf des Lebens einzugreifen« (81). Als Mumienleinen ist eine besondere Nähe zu den Verstorbenen gegeben (94), das schließlich als eine »Art magisch wirksamer Text-Cocon um den Leichnam herum fungieren kann« (95), damit auch in physischem Kontakt zu ihm steht (99) und schließlich sogar als »ntr-j, die Göttlicher bzw. Vergöttlichende, die Heilige« bezeichnet wird (101).
Joachim Friedrich Quack kommt zu der Frage, ob und inwiefern Schmierblätter oder eine »Getreideabrechung« (111) als Papier/ Papyrusgrundlage für eine heilige Schrift wie einem Totenbuch verwendet werden dürften, und resultiert, dass die »Heiligkeit an der rituellen Ausführung« (129) hänge, weniger am Inhalt des Textes.
Jan Moje untersucht, welche altägyptischen Schriftarten einschließlich dem später verwendeten Griechischen auf welche Weise in heiligen Texten miteinander verknüpft werden können, und kommt dabei zu dem eher überraschenden Ergebnis, dass sich bei den verwendeten Beispielen die »kanonische Reihenfolge Hieroglyphisch – Hieratisch – Demotisch – Griechisch« nicht in der Weise ge­nerell findet, wie es zu erwarten gewesen wäre (171), wobei allerdings Griechisch nicht die Oberhand gewinnen könne.
Sehr interessant ist auch die plastische Darstellung »Heilige[r] buddhistische[r] Schriften in Stein« von Claudia Wenzel, bei der sie diese chinesischen Inschriften in ihrer spezifischen Raumumgebung, vor allem im Gebirge, untersucht und zeigt, inwiefern durch diese Inschriften Raum mit einbezogen, ja mehr noch religiös okkupiert werden und zur Überführung (als translatio loci, 202) indisch buddhistischer Geographie, etwa auch des berühmten Geiergipfelberges, in die spezifische Lokalität Chinas dienen kann.
Hanna Liss unternimmt eine Bestimmung der Torarolle als das »heiligste Objekt des Judentums« (nach der Zeitenwende). Be­kanntlich gibt es Vorschriften, mit welcher Tinte dieses Werk in »248 Kolumnen mit der je 42 Zeilen« (209) geschrieben werden und ebenso wie ein gesalbter Priester gekleidet (210) werden und seine kultische Reinheit bewahrt (219) werden muss. Liss zeigt, wie dies im Einzelnen genormt ist und welche Charakteristika einem solchen Buch zukommen, »dem die Heiligkeit inhärent« (226) ist.
Bruno Reudenbach folgt der Geschichte des christlichen kanonischen Buches als Codex, der für das Christentum so typisch war, dass er »als Verkörperung des Wortes Gottes« schließlich »zum Signet christlicher Identität« wurde (233/234) Einem Corpus Christi als Sakrament in Brot und Wein wird das Buch gegenübergestellt (237); so schließt er diesen anschaulichen Artikel mit einem Zitat des Isaak von Stella »Christus ist uns zum Buch geworden.« (241).
Gereon Becht-Jördens veranschaulicht in »Schrift im Mittelalter– Zeichen des Heils« die »inhaltliche Bedeutung von Material und Form« (245). Dabei tritt die Wirkung von Schrift und Buchstabe einem neuzeitlichen Verständnis gegenüber, dass es bei Texten vor allem um Lesen, Verstehen und Inhalt ginge. Zugleich macht Schrift – z. B. als Inschrift – Übernatürliches erfahrbar (266) oder ordnet ihm spezifische Gegenstände zu. Die Überzeugskraft, fast -macht dieser Schriftreligion entfalte in seinen »Zeichen des Heils« (292) seinen Vorzug gegenüber nicht verschriftlichten Religionen (290).
Einen gewissen Höhepunkt bildet der abschließende Artikel von Annette Hornbacher über »Schrift als Medium esoterischer Spekulation, ritueller Wirkung und religiöser Kanonisierung in Bali«, in dem sie sich in außerordentlicher Weise in das (als Gesamtsystem erst zu konstruierende) Denkgebäude der Wirkung von Schrift in dieser Kultur hineinversetzt und mit wissenschaftlicher klarer Konturierung aufzeigt, was es bedeutet – und was nicht. So gelingt es ihr etwa, den nicht kanonisierten Hinduismus anhand dieser Bedeutung von wirksamer und wirkender Schriftmächtigkeit gegenüber dem offiziellen Normhinduismus abzusetzen, etwa indem sie die Bedeutung der »Manifestation göttlicher Kräfte« aufzeigt, die sich performativ realisieren und dabei das Leben des Praktizierenden verändern« (316).
Insgesamt sind die in diesem Buch vertretenen Artikel sehr gut recherchiert. Sie führen in eine religionswissenschaftliche und kulturgeschichtliche Welt, die wenig beachtet wird und die es lohnt, zur Kenntnis zu nehmen. Darüber hinaus ist das Buch mit seinen Bildern und seiner Aufmachung ansprechend gestaltet.