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Ausgabe:

Mai/2016

Spalte:

529-531

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hübner, Dietmar

Titel/Untertitel:

Einführung in die philosophische Ethik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 283 S. m. 27 Tab. = UTB 4121. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-8252-4121-6.

Rezensent:

Friedo Ricken

Das Buch von Dietmar Hübner geht zurück auf Vorlesungen für Anfänger der Philosophie, aber auch für Studierende anderer Fächer; es will systematisches und historisches Wissen vermitteln. Kapitel 1 klärt die Begriffe Ethik und Moral. Moral ist ein Normensystem, Ethik ist die Wissenschaft von der Moral. H. unterscheidet drei Ebenen der Ethik. Die deskriptive Ethik betrachtet die Moral unter einer beschreibenden Perspektive; in der normativen Ethik geht es um die Frage, »wie sich Moralen begründen lassen«, und in der Metaethik darum, »welchen grundlegenden Status moralische Begriffe, Aussagen oder Argumentationen haben« (22).
Ist die deskriptive Ethik (Kapitel 2) eine Aufgabe der Philosophie oder nicht vielmehr anderer Wissenschaften, etwa der Soziologie? Adam Smith entwickelt eine normative Theorie, aber auch »de­skriptive Überlegungen zur Natur und Gestalt moralischer Empfindungen« (25). Lawrence Kohlberg untersucht die psychologische Entwicklung der Moralität bei Individuen. Wie Smith, so vollzieht auch er einen Übergang zur normativen Ethik; die beiden höchsten Stufen der Entwicklung entsprechen dem Utilitarismus und dem Kantianismus. Für Niklas Luhmann ist die Moral die »Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung oder Missachtung« (30). Sie ist grundsätzlich universell; diese »universelle moralische Einstufung« gerät jedoch in Schwierigkeiten, »sobald die verschiedenen sozialen Bereiche auseinander driften und selbständig werden. Eben dies ist nach Luhmann in modernen Gesellschaften zunehmend der Fall« (31).
Themen von Kapitel 3 »Metaethik« sind der naturalistische Fehlschluss; Kognitivismus und Nonkognitivismus; Generalismus und Partikularismus; Rationalismus und Sensualismus; Tugendethik, Deontologie und Teleologie. H. unterscheidet drei philosophische Ebenen, denen sich metaethische Untersuchungen zuordnen lassen. Auf einer ontologischen Ebene befassen sie sich mit der »Seinsweise des Moralischen«; auf einer »epistemologischen Ebene er-örtern sie die Erkenntnisformen des Moralischen«; auf einer »sprachanalytischen Ebene beschäftigen sie sich mit den Kommunikationsarten des Moralischen«. Diese Ebenen sind »nicht isoliert voneinander, sondern weisen gelegentliche Bezüge auf. So kann die ontologische Frage, wie die Moral beschaffen ist, Auswirkungen auf die epistemologische Frage haben, wie man die Moral erkennt. Beide Aspekte können ihrerseits sprachanalytische Effekte dahingehend haben, wie man über Moral spricht« (37). Auf dem Hintergrund der sprachanalytischen Diskussion des 20. Jh.s sehe ich die Zusammenhänge anders. Die epistemologische Frage ist mit Hilfe der Sprachanalyse zu klären; sie muss die Frage beantworten, ob moralische Sätze Aussagen sind, die einen Wahrheitswert haben. Wenn das der Fall ist, ergibt sich die Frage nach dem ontologischen Status deontischer Sachverhalte. – Moralische Urteile bewerten menschliches Verhalten mit dem Anspruch auf unbedingte Gültigkeit. In jedem menschlichen Verhalten sind drei Komponenten unterscheidbar, auf die die Bewertung sich beziehen kann. Tu­gendethiken legen den Schwerpunkt auf die Motivation; Deontologien stellen die eigentliche Handlung in den Vordergrund; Teleologien legen das Hauptgewicht auf die Folgen der Handlung.
Kapitel 4 vertieft die Perspektive der Tugendethik anhand ihrer wichtigsten Vertreter: Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin. Platon und Aristoteles sind Partikularisten; ihre ethischen Grundideen lassen »viel Raum für situative Konkretisierungen, was ein moralisches Verhalten unter gegebenen Umständen jeweils beinhalten könnte«. Bei beiden ist »die Vernunft das oberste Seelenvermögen« (138 f.). Das lässt an der oben genannten Bestimmung zweifeln, dass die Tugendethik den Schwerpunkt auf die Motiva-tion legt. Nach Platon und Aristoteles ist Tugend vielmehr die charakterliche Verfassung, die die Herrschaft der praktischen Vernunft ermöglicht. Epistemisch betrachtet antwortet die Tugendethik auf die Frage nach dem richtigen Handeln nicht mit Prin­zipien, sondern mit dem Hinweis auf das Verhalten des »Klugen« (Nikomachische Ethik II 6). Der Abschnitt »4.5 Rückkehr des Aris­totelismus« wirft einen Blick auf das erneute Interesse an der Tu­gendethik seit den 1950er Jahren, u. a. bei Alasdair MacIntyre und Martha Nussbaum.
Als Hauptvertreter einer deontologischen Ethik (Kapitel 5) gilt Kant. H. interpretiert und diskutiert die Gesetzesformel und die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs. In der Gesetzesformel ist die Intuition thematisiert, »dass eine Universalisier-barkeit von Handlungen zu fordern sei«. Die Selbstzweckformel bringt, indem sie die Instrumentalisierung von Menschen verbietet, eine weitere wichtige Grundintuition zum Ausdruck. Es »ist ein attraktives Merkmal der kantischen Ethik, dass sie beide Normen enthält und miteinander verbindet« (201 f.). Moderne deontologische Entwürfe haben u. a. John Rawls und Jürgen Habermas vorgelegt. Zeitgenössische Deontologen bringen ihr ethisches Grundverständnis oft mit dem Motto »Vorrang des Gerechten vor dem Guten« zum Ausdruck; es dient ihnen zur »Abgrenzung ge­genüber tugendethischen oder teleologischen Entwürfen« (205).
In der teleologischen Ethik (Kapitel 6) nehmen die verschiedenen Formen des Utilitarismus eine zentrale Stellung ein. »Ihnen zufolge muss moralisches Verhalten eine größtmögliche Gesamtmenge an Nutzen über alle Betroffenen hinweg anzielen« (211). H. bringt verschiedene Varianten dieses Prinzips: Akt- und Regel-Utilitarismus, Glücks- und Präferenz-Utilitarismus, Nutzensummen- und Durchschnittsnutzen-Utilitarismus. Eine erste Gruppe von Einwänden lautet: Eine Nettobilanz von positiven und negativen Empfindungen ist noch nicht einmal auf der intrapersonellen, geschweige denn auf der interpersonellen Ebene möglich. Nutzen, so ein weiterer Einwand, kann keinen ethisch adäquaten Bezugspunkt bilden. Dem lässt sich entgegnen, es gebe eine Reihe von unzweifelhaft ethischen Grundintuitionen, die den Nutzen von Menschen ins Zentrum der Beurteilung stellen: die Pflichten des Wohltuns, des Helfens usw.
Das »zentrale Problem des Utilitarismus« sieht H. darin, dass der Vorsatz, den Gesamtnutzen zu maximieren, »zu erheblicher Un­gleichheit zwischen den Beteiligten« führen (226) und nur um den Preis der Verletzung elementarer Abwehrrechte ausgeführt werden kann. Das führt zu folgender Alternative: Entweder erkennt man die Forderungen der Gleichheit und die Abwehrrechte an. »Dann sollte man sie explizit in die eigene Theorie integrieren«. Oder man hält am puren Utilitarismus fest. Dann muss man erklären, dass Ungleichheit und die Verletzung von fundamentalen Abwehrrechten »in gewissen Fällen eben doch moralisch vertretbar oder sogar geboten sind« (231 f.). Nach der Diskussion typischer Einwände wendet H. sich den Argumenten für den Utilitarismus bei Bentham, Mill und Sidgwick zu. Abschließend geht er auf neuere Vertreter ein. Sie setzten oft beim Gedanken der Unparteilichkeit an; die Interessen aller Betroffenen seien in gleichem Maß zu berücksichtigen; hieraus solle dann folgen, dass der Gesamtnutzen zu maximieren sei. Aus der Unparteilichkeit, so H.s Kritik, ergebe sich nicht notwendig die Maximierung der Nutzensumme. Sein Lö­sungsvorschlag lautet: »Eine Maximierung des Gesamtnutzens überzeugt nur dann, wenn man mehrere Menschen wie einen einzigen Menschen betrachtet. Diese Auflösung der Personengrenzen wiederum wird nur dann verständlich, wenn man den spezifischen Standpunkt eines idealen Beobachters einnimmt.« (270)