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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

428-430

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nicol, Martin

Titel/Untertitel:

Gottesklang und Fingersatz. Beethovens Klaviersonaten als religiöses Erlebnis.

Verlag:

Bonn: Verlag Beethoven-Haus 2015. VIII, 308 S. m. Abb. Geb. EUR 28,50. ISBN 978-3-88188-137-1.

Rezensent:

Karl Friedrich Ulrichs

Die 32 Klaviersonaten Ludwig van Beethovens berühren Interpreten und Publikum mit solch emotionaler Kraft, dass dieses Erleben auch in religiöser Sprache ausgedrückt wird. Dieser praktisch-theologisch nicht weniger als musikwissenschaftlich interessanten religiösen Rezeption geht der Erlanger Praktische Theologe und erklärte »Beethovener« Martin Nicol nach. Die Klaviersonate gilt zwar einerseits als Inbegriff bürgerlicher Instrumentalmusik, die wesentlich nicht religiös motiviert oder kirchlich kontextualisiert ist, war aber andererseits ein »Kristallisationspunkt romantisch inspirierter Kunstreligion« (2). Dazu hat N. neben allgemeinverständlichen Sonatenführern (dazu besonders 29 ff., wo diese als »Erbauungsschriften« vorgestellt werden) musikalische Kleinliteratur wie Begleithefte zu Einspielungen, Texte aus Konzertprogrammen, Konzertbesprechungen usw. gesichtet, dazu noch einige literarische Texte wie Thomas Manns Doktor Faustus (155–158) und Lyrisches. N. beschränkt sich auf gedruckte Literatur, während Einschlägiges aus dem Internet unberücksichtigt bleibt; religiös getönte Kommentare zu YouTube-Videos mit Beethovens Klaviersonaten etwa oder Texte auf Musiker-Homepages werden nicht herangezogen. Das führt zu einem gewissen Schwerpunkt bei der Beethoven-Interpretation der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Insbesondere die Aussagen von Pianistinnen und Pianisten (wie Wilhelm Kempff, Edwin Fischer [zu beiden die Erwägungen zur »Protestantischen Mystik«, 175–203] oder Alfred Brendel [205–227]) sind aufschlussreich, insofern sie Einsichten in Erleben und musikalische Gestaltungspraxis gewähren. Als Marker für religiöse Rezeption dienen biblische Zitate und Anspielungen; sie finden sich erstaunlich häufig und massiv (besonders beim Kantorensohn Kempff und bei Fischer). Ein wichtiges Motiv ist das Beten, mit dem regelmäßig kompositorische Suggestion und empathische Interpretation belegt werden (z. B. 30–32).
Gerade wer ästhetischen Fragen nachgeht, steht in der Gefahr, einem der Musik vorgeblich eingeschriebenen Pathos zu erliegen; daher möchte N. beim Hörerlebnis ansetzen und mit reflektierter Nüchternheit zu Werke gehen, wie der Titel »Gottesklang und Fingersatz« ausdrückt. »Gottesklang muss sich am Fingersatz be­währen, Pathos an der Partitur und religiöse Deutung an Texten.« (3) Zehn Kapitel gleichen Aufbaus (thetisches Abstract, Thema, Darlegung anhand einer Sonate) werden gerahmt von einer Einführung und theologischen Erörterungen. Der »Beethoven-Erwartung« (2.72), einem Klischee getragen-bedeutungsschwangerer Musik – wobei insbesondere der zweite, langsame Satz als dem Choral verwandt wahrgenommen wird (»Adagio-Frömmigkeit«) –, setzt N. die rezeptionsästhetisch plausible Annahme entgegen, dass wie das vermeintlich »Tiefe« nicht tiefgründig, so das leicht Wahrzunehmende keinesfalls oberflächlich sein muss (18 f.), eine Sicht, die auch einem leichtfüßig daherkommenden Finalsatz »Bedeutung« zuerkennen kann (vgl. 202 f.).
N.s theologisches Interesse ist es, »auch den kulturellen Bereich als Bereich der Gotteswirklichkeit zu beschreiben« (2) – aufsetzend auf das (auch eigene) kulturelle Erleben, die religiöse Erfahrung, »Musik im Gotteshorizont« zu hören. Der »Gotteshorizont« von Musik und Glaube sei »identisch« (261); daher skizziert N. im Schlusskapitel seine »Hermeneutik im Diesseits«, nach der die Klaviersonaten als Gleichnisse für »Gotteswirklichkeit« verstanden werden (267–273). Wird dies so erlebt, ist es konfessorisch zu äußern und darüber unter kunstreligiösen Prämissen zu diskutieren: »Gottesklang« sei »im Diesseits handwerklicher Sorgfalt und widerstreitender Meinungen« vernehmbar (269 f.). Dazu gibt N. anhand der Sonate e-moll op. 90, nämlich an einem piano als »verweigertes Laut« und an einer dekonstruierenden Interpretation durch András Schiff, eine Probe aufs Exempel (274–280) sowie einen Ausblick (281–284), in dem »zwischenzeitliche Etüden« musikalisch gestaltete, überzeitliche und erfüllte Zeit darbieten. Dass (neben aller Mystik) Humor für N. von Belang ist, ist sympathisch; im Gegenüber zum wegen seiner Mozartvorliebe leise gescholtenen Karl Barth mag man das Theologoumenon der Freiheit etwas vermissen.
Praktisch-theologisch, insbesondere liturgisch und homiletisch triftig sind hermeneutische Analogien zwischen der Praxis der Klaviersonaten und dem religiösen Umgang mit der Bibel (59–83) und unter der Überschrift »Ereignis und Kritik« der Transfer von Joachim Kaisers feuilletonistischer Hermeneutik einer Dialektik von Notentext und radikaler und sprachmächtiger Subjektivität. Diese Parallelen von Musikfeuilleton und Praktischer Theologie, besonders auch (dramaturgischer) Homiletik (3 f.232 f., so schon der Aufsatz »Musikalische Hermeneutik« [PastTheol 80, 1991, 230–238]) sind instruktiv; das »Wechselspiel« von Sonaten- und Bibelhermeneutik ist rezeptionshermeneutisch begründet, insofern bei der »Aufführung«, bei Erleben und Deutung angesetzt wird. Wäre homiletisch demnach wesentlich das Auredit, die vom Hörer konstruierte, erlebte Predigt (Wilfried Engemann) zu bedenken?
Ist das von Friedrich Schleiermacher und Martin Leberecht de Wette entworfene Konzept von Kunstreligion (94–96), durch das esoterische Bramarbasieren einer Elly Ney desavouiert (119–141), nach dem Autoritätensturz von 1968 einerseits und »ästhetischer Wende« andererseits ein heute wieder plausibles Konzept? Beethoven-Konzerte gerieten spätestens bei und nach dem die Mystifizierung Beethovens betreibenden Franz Liszt (99–103) zum Kult (86–92) – postmodern durch das Event substituiert (91). N. möchte die kunstreligiöse »Frage nach religiösen Momenten im Musik-Erleben, oder umgekehrt, nach einem Musik-Erleben im Gotteshorizont« erneut stellen (96).
N.s Beethoven-Buch ist auch ein Dokument bildungsbürgerlicher Religiosität und darin eine wichtige Ergänzung zu popkulturell interessierten praktisch-theologischen Arbeiten. Insofern Beethoven (wohl immer schon, gegenwärtig gewiss in besonderem Maße) von Menschen mit einiger Lebenserfahrung und von höherem Lebensalter gehört wird – dieser dritte Aspekt könnte zum hohen Alter von Komponist (Beethoven als Mose, 162–164) und Pianisten bei den Überlegungen zum Spätwerk (besonders 111–113.164–167) ergänzt werden –, ergeben sich hier möglicherweise interessante alterstheologische Forschungsdesigns, in denen die Religionsproduktivität des Alters kulturell, insbesondere musikalisch profiliert wird.
Sind die jeweils abschließenden, einzelnen Sonaten gewidmeten Kapitelabschnitte für Musikliebhaber und Musikologen be­sonders interessant, bietet N. auch musikwissenschaftlich mit durchaus Kaiserschem Ingenium Beachtliches, so etwa seine großartige Interpretation von Tempo und Phrasierung im Trauermarsch der As-Dur-Sonate op. 26 durch Maria Yudina als antimilitaristisches Spiel (146).
N. hat mit »Gottesklang und Fingersatz« ein eingestandenermaßen (1) persönliches (dazu auch das »Praeludium Vitae«, 5–27) und hermeneutisch reflektiert subjektives und emotionales (s. dazu 236–238) Buch vorgelegt, das (so) noch nicht geschrieben wurde und wohl auch nicht wieder geschrieben werden wird – und insofern als seinem Gegenstand, den Klaviersonaten Beethovens, kongenial bezeichnet zu werden verdient. Nach biblischen 40 Jahren Arbeit hat Maurizio Pollini soeben seine Einspielung der Beethoven-Sonaten abgeschlossen. In einem Interview äußert er, angesprochen auf deren religiöse Rezeption, dass die schiere »Größe« dieser Musik »die ästhetische Begeisterung schnell ins Religiöse umschlagen lassen kann« (FAZ 15.6.2015, 10). Musikalische Religion also als irrationaler Enthusiasmus – das hat vor allem die »Reichsklaviergroßmutter« Ney dem armen Beethoven eingebrockt. Man wird es N. danken, dass er den musikwissenschaftlich-theologischen Diskurs erweitert, indem er praktisch-theologische Nüchternheit und methodische Transparenz mit tief empfundener Musikliebe, stupender Kenntnis von Einspielungen und Literatur und nicht zuletzt mit stilvoller Sprache verbindet.