Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2016

Spalte:

426-428

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mantey, Volker, Sadowski, Sigurd, u. Heinz-Ulrich Schmidt-Ropertz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Menschen gewinnen. Evangelisch sein im ländlichen Raum.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 271 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-03280-8.

Rezensent:

Thomas Schlegel

Wer in diesem Sammelband pointierte Beiträge zur neueren Debatte um Kirche in ländlichen Räumen erwartet, wird enttäuscht werden. Das Dorf als spezifischer Kontext kirchlichen Handelns spielt keine prägende Rolle. Es fehlt jede Bezugnahme auf die Disparität ländlicher Räume, auf deren soziologische Eigenheiten, theologische Möglichkeiten (rural theology) und die problematischen Entwicklungen, auf die die Raumforschung seit Längerem hinweist (Peripherisierung). Der ländliche Raum wird als solcher vorausgesetzt – und nicht eigens thematisiert. Wer freilich die Fachliteratur der letzten Jahre verfolgt hat, weiß um die Schwierigkeit einer solchen Ausblendung: Der ländliche Raum hat seine Selbstverständlichkeit eingebüßt, er stellt »weniger denn je eine einheitliche Raumkategorie« dar, wie schon der vorletzte Raumordnungsbericht konstatiert (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung [Hrsg.], Raumordnungsbericht, Bonn 2005, 203). Wer also über »Evangelisch sein im ländlichen Raum« schreibt, muss Rechenschaft darüber geben, was er damit meint.
Bei etwas genauerer Lektüre wird deutlich, dass die Herausgeber eine bestimmte ländliche Region in einer bestimmten Zeit vor Augen hatten: den Kirchenkreis Melsungen in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Zu Beginn des Milleniums be­droht von landeskirchlichen Fusionsvorhaben »setzten sich die Kirchenvorstände und die Kreissynode Melsungen zur Wehr« (204), initiierten einen Leitbildprozess, verfassten das Grundsatzpapier »Vertraute Heimat Kirche« und bemühten sich, »Mitglieder [zu] stärken – Mitglieder [zu] gewinnen« (251). »Missionarisch zu handeln ist ja auch einer der Schwerpunkte, den sich die Kreissynode Melsungen für die laufende Legislaturperiode gesetzt hat.« (22) Prägend wirkte dabei Dekan Kirchenrat Rudolf Schulze, dessen 65. Geburtstag den Anlass der Aufsatzsammlung bildet. Ihre inhaltliche Mitte finden die Beiträge in der »projekthafte[n] Arbeit, die in den vergangenen Jahren im Kirchenkreis Melsungen geleistet wurde« (204).
Allerdings muss gefragt werden, ob diese äußere Bezugnahme ausreichend ist bzw. ob eine innere Verbindung existiert. Denn nur diese würde den Band einer regionalen Relevanz entheben und zu einem interessanten Gesprächspartner innerhalb einer praktisch-theologischen oder/und kirchlichen Debatte werden lassen. Leider erschließt sich kein solcher roter Faden: zu disparat die Themen, die Ansätze, das Niveau und die Gattungen der einzelnen Beiträge.
So tippen Ruthild von Dörnberg und Ulrike Grimmell-Kühl das Thema »Kinder in der Kirche« bzw. »Seelsorge an und mit Kindern« an. Für den Erhalt von Kirchengebäuden plädiert Michael Frede. Barbara Heller denkt über das Altern nach, Sigurd Sadowski plädiert für Gottesdienste an anderen Orten, Heinz-Ulrich Schmidt-Ropertz sucht den sakralen Gehalt der Kunst. Dass Öffentlichkeitsarbeit für Gemeinden zentral ist, konstatiert Alexander Warnemann, Martin Hein sieht im Gottesdienst einen entscheidenden Beitrag zum Kompetenzerwerb in Gemeinden. Paul-Gerhard Klumbies stellt religionsphilosophische Gedanken zur Gewalt an, Wilhelm Richebächer präsentiert ökumenische Erfahrungen zur Taufe, Dieter Posch überlegt, wie das Verhältnis Politik-Religion unter heutigen Bedingungen zu gestalten ist, und Eberhard Wisseler macht sich für eine Kunst der Seelsorge stark.
Einzig das vage »Evangelisch sein« im Titel kann als Klammer für einige Beiträge dienen, wenn man dieses dahingehend präzisiert, dass es um die aktuellen Problemkonstellationen und Veränderungsprozesse innerhalb der evangelischen Großorganisation geht.
Freimut Schirrmacher analysiert die »Krise der Kirchlichkeit« (241), faltet das Problembündel auseinander und fordert angesichts der »hohe[n] Komplexität des Steuerungsaufwandes« (247) professionelles Kirchenmanagement. Jochen Cornelius-Bundschuh erblickt in der Debatte wenig Neues: »In den letzten 40 Jahren präsentiert sich die evangelische Kirche konsequent als Reformprojekt.« (136) Dabei dominiere »eine selbstkritische Perspektive […], die zuweilen die Wahrnehmung der eigenen Möglichkeiten und der eigenen Kraft einschränkt« (ebd.). Dagegen ist es Absicht des Autors, auf Entwicklungen innerhalb des Protes-tantismus aufmerksam zu machen, die die »Verwurzelung in der Gesellschaft nachhaltig stärken« (ebd.): der »Trend zum Event« (137 ff.), die Sensibilität für Räume (Kirchen- und Sozialräume) (141 ff.) und die »verschiedenen Grade der Verbundenheit« in einer Volkskirche (145 ff.). Insgesamt fordert er eine kontextsensible Verbindung von »Glaube und jeweilige[r] Lebenswelt« – oder die Kommunalisierung des Evangeliums, was auf eine Differenzierung kirchlicher Sozialgestalten hinausläuft, die aber dennoch gemeinsame Perspektiven entwickeln (149 ff.).
Für die Vielfalt von gemeindlichen Profilen in der Region votiert auch Volker Mantey. Er widmet sich einer zentralen Frage angesichts der Strukturdebatten: ob dem Kirchenkreis (der mittleren Ebene) eine ekklesiologische Dignität zukommt – oder ob er als reine Verwaltungseinheit zu betrachten ist. Dazu bietet er interessante Perspektiven, wenn er z. B. historisch zurückfragt. Freilich kann und will sein Beitrag »nur ein Anstoß für die Diskussion« (206) sein, was auch dadurch untermauert wird, dass er maßgebliche Gesprächspartner übergeht (z. B. das EKD-Zentrum für Mission in der Region) und neuere Publikationen nicht berücksichtigt (Handbuch Kirche und Regionalentwicklung).
Ludwig Georg Braun, der nach dem Beitrag der »evangelischen Kirche zur Zukunft Europas« (120 ff.) fragt, kommt am Ende auf die Reformbemühungen der EKD zu sprechen. Hier wünscht er sich radikale Veränderungen: Eine Freiwilligkeitskirche, »in der sich die Menschen bewusst aus freier Entscheidung, und nicht mehr ex negativo durch Nicht-Austritt, zum Glauben und zur Kirche bekennen« (130), eine »Umgestaltung der Einnahmestruktur der Landeskirchen« (ebd.), schließlich das Verschmelzen der »großen Kirchen insgesamt zu einer Einheit« (129).
Einen systematisch klaren Aufsatz – und damit ein Höhepunkt des Buches– bietet Wilfried Härle, indem er danach fragt, ob »Wachstum ein theologisch legitimes Ziel für Kirchengemeinden« sei. Hintergrund bildet freilich das von ihm mitverantwortete Buch »Wachsen gegen den Trend« bzw. diverse Rückfragen zur Orientierung am Größerwerden. Differenziert weist er auf Chancen und Grenzen bzw. verschiedene Formen von Wachstum hin und kommt nach einem Blick ins Neue Testament zu dem Schluss: »Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass christliche Gemeinden dem zahlenmäßigen Wachstum gegenüber ablehnend, skeptisch oder auch nur gleichgültig sein dürften oder gar sollten.« (164) Es gehe immer darum, »möglichst viele Menschen zu erreichen«, was darin konkret werde, dass Menschen sich taufen ließen, sich an Gemeinde und Gottesdienst beteiligen sowie ihrerseits wieder zu Zeugen des Evangeliums würden (ebd.). Freilich lasse sich dies nicht menschlich herstellen, sondern nur »wollen, wünschen, erbitten und erhoffen« (165). Schade, dass auch Wilfried Härle – wie die meisten Autoren des Buches – als Schrumpfungsfaktor eindimensional und unhinterfragt den »demographischen Wandel« bemüht und damit an dem Ernst der Lage m. E. vorbeischrammt.
Wie man »missionarisch einladende Gemeinde auf dem Lande« gestalten könne, fragt Michael Schümers. Damit bedient er als Einziger die Erwartungen, die der Buchtitel gesetzt hat, bleibt aber in der Umsetzung weit dahinter zurück. Denn zunächst beschäftigt er sich mit dem Mitgliederrückgang – und wie die evangelische Kirche allgemein damit umgehen kann. Er beantwortet dies, indem er ein einschlägiges Themenheft referiert und die dortigen Gedanken von Axel Noack und Thomas Schlegel miteinander mischt. Dabei unterlaufen ihm handwerkliche Fehler, es werden Belege vergessen und Ideen kopiert, die er als die seinen ausgibt (z. B. 95). Der zweite Teil schließlich ähnelt einer losen Sammlung von Projekten des Kirchspiels Landefeld.
»Menschen gewinnen« dokumentiert die Bemühungen, Ideen und Personen, die einen osthessischen Kirchenkreis in Strukturveränderungen und Reformbemühungen geprägt haben. Die mit kybernetischen Fragen beschäftigte Praktische Theologie dagegen erhält aus vorliegendem Band nur vereinzelt interessante Impulse.