Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2016

Spalte:

413-415

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bockmühl, Klaus

Titel/Untertitel:

Grundlagen evangelischer Ethik. Beiträge zur Fundamentalethik. Hrsg. v. W. Neuer.

Verlag:

Gießen u. a.: Brunnen Verlag 2015. 384 S. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7655-9449-6.

Rezensent:

Harald Seubert

Der vorliegende Band, mit dem zugleich die Klaus Bockmühl-Ge­samtausgabe (BWA) zum Abschluss kommt, sammelt die wesentlichsten Beiträge zur Ethik aus der Feder des 1989 verstorbenen evangelischen Theologen. Er ergänzt damit sinnvoll dessen magis­trale Studie »Gesetz und Geist. Eine kritische Würdigung des Erbes protestantischer Ethik«, die ebenfalls bereits im Rahmen der Gesamtausgabe erschienen ist. Die von Werner Neuer besorgte Edition ist sehr sorgfältig und in der Konzeption sinnvoll. Bibelstellenregister, Namens- und Sachverzeichnis ergänzen den Text. Eine umfangreiche »Einführung« ordnet die Texte auch lebens- und zeitgeschichtlich zu. Sie umfassen immerhin einen bewegten Zeitraum von gut zwanzig Jahren.
Eine erste Gruppe von Texten gruppiert sich um die biblische Grundlegung einer evangelischen Ethik: Mit dem »Magnus Consensus« der Kirche und bewusst überkonfessionell geht B. von der maßgeblichen Autorität der Bibel aus. Er widerspricht klar und entschieden einer Umorientierung auf die moderne Wirklichkeit und Bedürfnisse »des« modernen Menschen, als ob dieser so eindeutig zu verorten wäre. Obwohl er sich der, wie er pointiert formuliert, »ethische[n] Variante des Programms der Entmythologisierung« entschieden widersetzt, bleibt B., jedenfalls in der Regel, nicht bei biblizistischen Berufungen stehen, sondern überführt den Schriftbefund in konzise Argumentationen. Ein Leitmotiv ist dabei die Einsicht, dass Gesetz und Freiheit, bzw. Gesetz und Evangelium neutestamentlich nicht in einem Gegensatz stehen, sondern dass das Evangelium das Gesetz erfüllt, ohne es aufzuheben. Durchgehend votiert B. gegen den verbreiteten Antinomismus in der neueren Ethik. In seiner Vergegenwärtigung der »Zehn Gebote heute« zeigt er in umsichtiger Weise, dass die Gebote keineswegs heteronome Anordnungen sind. Sie lassen sich vielmehr gleichermaßen aus einer allgemeinen Pflichtenlehre wie auch aus der Ontologie begründen, da sich in ihnen Gottes Macht und seine Liebe und Freundlichkeit zeigt. Der Dekalog darf, so B.s Plädoyer, nicht von Christus abgelöst werden. Er ist vielmehr als Teil einer pneumatischen Liebesethik zu verstehen. Einen besonders bemerkenswerten Akzent innerhalb der neueren Traditionen evangelischer Ethik setzt B. durch seine hohe Wertschätzung und klare Artikulation des Naturrechts. Dies durchzieht den Band und wird durch einen schmalen, aber gewichtigen Naturrechtsbeitrag (226–231) eigens unterstrichen.
Die zweite Abteilung widmet sich dann den »Grundproblemen evangelischer Ethik«. B. setzt sich hier in extenso und nicht ohne Überspitzung mit dem von ihm konstatierten tendenziellen »Antinomismus« der protestantischen Theologie des 20. Jh.s auseinander. Die spezifische Signatur reformatorisch-biblischer Ethik setzt er davon ab. Sie hat, wie in den verschiedenen selbstkritischen Bemerkungen deutlich wird, nicht in eine verhärtete Orthodoxie zu verfallen, sondern die »Synthese von Gesetz und Geist« wiederzugewinnen, von der her B. auch missionarische und diakonische Aspekte der Ethik besonders herausarbeitet.
Der dritte Teil des Bandes dokumentiert B.s umfangreiche Auseinandersetzung mit der Situationsethik, die seiner Überzeugung zufolge in der Konsequenz in den Relativismus führen müsse. Dass über diesem grundsätzlich berechtigten Einwand die epitaktische Urteilskraft und Berücksichtigung des Einzelfalls unterbelichtet bleiben könnte, sei angemerkt. B. ist Polemiker, aber, wie der Herausgeber Werner Neuer zu Recht bemerkt, eben nicht nur – und schon gar nicht um der Polemik willen. Vielmehr hat für ihn die Ethik selbst eine heilende, medizinische Funktion, die nicht von der »Erlaubnismoral«, sondern von der Lebensgestaltung nach Gottes Ratschluss ausgeht. Es ist nicht ohne gekonntes Provokationspotential, dass B. sein Verständnis christlicher Ethik im Sinn einer »Ethik der Revolution« konkretisiert. Sie ist dies nach B. freilich nicht in einem dem Marxismus ähnlichen Sinn, sondern als Metanoia, die dem Menschen ein »neues Herz« durch die »Einwohnung Christi« schenke. Im Sinne seiner pietistischen Kontexte hat B. der Heiligung ein besonderes Gewicht gegeben. Dies mag im Hauptstrom neuerer protestantischer Ethik etwas exotisch anmuten. Es hat aber, ähnlich wie die Berufung auf das Naturrecht, auch durchaus ökumenisches Potential, etwa im Blick auf die Orthodoxie, das weiter zu entwickeln wäre.
Humanität und menschliche Würde spielen in B.s Denken eine zentrale Rolle. Dies wird in der vierten Abteilung gut dokumentiert. Sie versammelt Beiträge, die ein allgemein-humanes von einem christlichen Verständnis des Menschseins unterscheidet. Die zeitdiagnostischen Analysen sind teilweise von großer Schärfe. B. sieht ein »Zeitalter der Herzlosigkeit« um sich greifen, dem gegenüber er in die »Schule der Barmherzigkeit« ruft. Den säkularen neuzeitlichen Humanitätsbegriff sieht er durch die Gefahr gekennzeichnet, in Egoismus zu verfallen, während die christliche Form von Hu-manität per se »proximo-zentrisch« am Nächsten orientiert sei. In einem eigenen Aufsatz wendet er sich, vor der Liberalisierung des Strafrechts in der damaligen Großen Koalition 1966, einem zentralen Feld politischer Ethik zu. Er mahnt an, dass jede Kodifizierung des Strafrechts den allgemeinen Forderungen der Sittlichkeit folgen müsse. Die christliche Liebesethik setzt ja in B.s Sinn das allgemeine Sittengesetz nicht außer Kraft, sie übersteigt es jedoch. Diese Position bringt der an politischen Fragen sehr interessierte B. auch in die damalige Grundwertedebatte ein: Wenngleich die verhandelten Positionen und Frontstellungen der Vergangenheit angehören, bleiben manche der systematischen Überlegungen doch nach wie vor von Relevanz. Dies gilt besonders im Blick auf die fünfte und abschließende Unterabteilung des Textes: B.s Beiträge zu einem christlichen Marxismusverständnis. Anders als manche Zeitgenossen hat er nicht Marxismus und christliche Eschatologie amalgamiert. Für ihn war die damalige intellektuelle Leitideologie vielmehr Adressat der Verkündigung. Im Evangelium sieht er das überzeugende Gegengewicht zum – gescheiterten und notwendig zum Scheitern verurteilten – marxistischen Experiment. Dabei wird deutlich, dass B. sich kenntnisreich mit Marx’ Werk und seiner Re­zeption befasst hat. Er dürfte seinerzeit einer der kenntnisreichs­ten konservativen Marxismuskritiker gewesen sein, der nachweislich auch auf die linkssozialistische Szene Einfluss ausübte. Implizit entwickelt er in diesem Zusammenhang eine Theorie der Bekehrung, die Metanoia als Wendung des Menschen »von der Selbstbezogenheit zur Gotteshingabe« zu beschreiben versucht, die dann auch eine Hinwendung zur sozialen Realität verlangt, freilich aus dem Geist des Evangeliums. Auch hier versäumt es B. nicht, die christlichen Binnentraditionen kritisch zu sehen, wo immer sie es an Glaube, Liebe und Hoffnung haben fehlen lassen.
Der Name Klaus Bockmühl ist außerhalb der im engeren Sinn evangelikalen Theologie heute verblasst. Es ist gut, dass diese ge­lungene Edition dazu ein Gegengewicht setzt. Sie ermöglicht es, Kerntexte eines Theologen wiederzuentdecken, der nicht einfach als »evangelikal« zu rubrizieren ist, sondern der mit seinem Konservatismus die Hoffnung auf die sich ständig erneuernde Kraft des Evangeliums verband.