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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

403-406

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Eckel, Rainer, u. Hans-Peter Großhans

Titel/Untertitel:

Gegner oder Geschwis­ter? Glaube und Wissenschaft

Verlag:

. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 134 S. = Theologie für die Gemeinde, IV/1. Kart. EUR 9,90. ISBN 978-3-374-03193-1.

Rezensent:

Matthias Haudel

Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Wissenschaft be­schäftigt nicht nur den akademischen Diskurs, sondern auch viele Glaubende und Diskussionen in den Kirchengemeinden, worauf die Autoren im Vorwort hinweisen (5). Deshalb haben Hans-Peter Großhans, Systematischer Theologe an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, und sein Doktorand Rainer Eckel, Lehrer und promovierter Physiker, einen ent­sprechenden Band in der Reihe »Theologie für die Gemeinde« veröffentlicht. Die Buchreihe zielt besonders auf ehrenamtliche kirchliche Mitarbeiter und Multiplikatoren, um ihnen theologische Sachkenntnis zu vermitteln.
Einen Beleg für den Zusammenhang von Glaube (geistliche Lebenspraxis) und Wissenschaft (methodische Erforschung) sehen die Autoren in der »dem christlichen Glauben innewohnende[n] Tendenz, eine Theologie und also eine argumentative Besinnung und Auseinandersetzung über die Wahrheit des Evangeliums […] auszubilden« (13). Entsprechend habe sich christliche Theologie stets in Auseinandersetzung mit dem jeweiligen wissenschaftlichen Kontext entwickelt. Vor diesem Hintergrund werden im 1. Kapitel anhand exemplarischer theologischer Konzeptionen der Kirchengeschichte Sichtweisen der Theologie auf die Wissenschaften dargelegt: Thomas von Aquin wird im Blick auf seine Verbindung von Theologie und aristotelischem Wissenschaftsverständnis (Beobachtungen und vernünftige Ableitungen) genannt, mit dem Hinweis, dass Thomas dabei grundsätzlich zwischen den Prinzipien des natürlichen Verstandes und denjenigen Prinzipien unterscheide, die von Gottes Offenbarung vorgegeben sind. Deshalb lasse sich die Wahrheit des Glaubens laut Thomas nicht aus Vernunftbeweisen ableiten. Auch in Bezug auf Martin Luthers Wertschätzung der Vernunft für die allgemeine Erkenntnis in den verschiedenen Lebensbereichen wird betont, dass die Erkenntnis der Glaubensgrundlagen nach Luther durch reine Vernunfterkenntnis nicht gewährt werde. Ferner kommt die positive Zuordnung von Glaube und Vernunft bzw. von Theologie und Wissenschaft bei Johannes Calvin zur Sprache (Lob der Weisheit Gottes), bevor die harmonische Sicht der evangelischen Theologie der Aufklärungszeit auf die Naturwissenschaften erörtert wird, welche sich im physiko-theologischen Gottesbeweis widerspiegelt: »Von der guten und weisen Ordnung in der Welt, die durch die naturwissenschaftliche Forschung im Großen wie im Kleinen bestätigt wird, wird auf eine erhabene und weise Ursache von allem […] geschlossen.« (33) Als Übergang zu Schleiermachers Trennung zwischen theologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisgegenständen und -methoden und zu dessen Reduktion des theologischen Interesses an den Naturwissenschaften auf das »fromme Naturgefühl im allgemeinen« merken die Autoren lediglich an, dass die »Theologie das Interesse an den konkreten Resultaten der naturwissenschaftlichen Forschung verloren« (37) habe. Hier wäre es sinnvoll gewesen, die Gründe für diese Entwicklung zu nennen und die Geschichte der verschiedenen Ausformungen des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft (Integration, Feindschaft, Trennung, Dialog etc.) im Zusammenhang aufzuzeigen, weil vor diesem Hintergrund die aktuellen Herausforderungen und Anforderungen für beide Seiten transparenter werden.
Im 2. Kapitel, in dem die Autoren am Fall Galilei die theologische Relevanz naturwissenschaftlicher Paradigmenwechsel beleuchten, kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Theologie in der inhaltlichen Auseinandersetzung um das neue heliozentrische Weltbild den Bereich ihres auf andere Inhalte zielenden methodischen Potentials verlassen habe, während die Naturwissenschaften nicht selten der Gefahr einer metaphysischen bzw. weltanschaulichen Interpretation ihrer Ergebnisse erliegen würden. So wichtig dieser hermeneutische Hinweis sowohl für die Theologie als auch für die Naturwissenschaften ist, so bleibt doch zu bedenken, dass die grundsätzliche theologische Kritik an dem reduktionistischen methodischen Verständnis Galileis (methodischer Paradigmenwechsel: nur noch Experiment und mathematische Formalisierung) heute in der Diskussion um eine zu einfache naturwissenschaftliche Hermeneutik erneut zur Sprache kommt. Umgekehrt stellt sich die Frage, wie weit sich naturwissenschaftliche Erkenntnis vom weltanschaulichen Kontext der Naturwissenschaftler abstrahieren lässt.
Das 3. Kapitel enthält die konkrete inhaltliche Erörterung des Verhältnisses von Glaube und Wissenschaft, und zwar in erster Linie anhand des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaften (Biologie, Physik, Neurowissenschaften) sowie im Blick auf das Verhältnis von Theologie und Sozialwissenschaften. Hinsichtlich der Biologie wird der mit Darwins Evolutionstheorie einhergehende Paradigmenwechsel sowohl vor dem Hintergrund der entsprechenden geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft als auch im Kontext moderner Molekularbiologie aufgezeigt. Dabei kritisieren die Autoren einen reduktionistischen naturwissenschaftlichen Materialismus, der Religion lediglich als Produkt der Evolution bezeichnet, was aber eine rein metaphysische Behauptung darstelle, zu der es auch Alternativen gebe: »Es besteht nämlich durchaus die Möglichkeit, dass die evolutiv gewordenen religiösen Strukturen einer transzendenten, jenseitigen und überzeitlichen Wirklichkeit entsprechen.« (65) Die unterschiedlichen Möglichkeiten weltanschaulicher oder metaphysischer Deutungen naturwissenschaftlicher Theorien werden im Bereich der Physik zunächst am Beispiel der Kosmologie Newtons aufgezeigt, um dann das Verhältnis von Kosmologie und Schöpfungsglauben im Horizont des physikalischen Paradigmenwechsels zu betrachten, den die Quantentheorie einleitete. Im Unterschied zur deterministischen klassischen Physik bzw. zur statischen Newton’schen Mechanik sind Naturprozesse jetzt nur noch durch Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten geprägt, was unterschiedlichste Interpretationsmöglichkeiten in Bezug auf Gottes Handeln am und im Kosmos eröffnet. Wünschenswert wäre auch eine eingehendere Berücksichtigung des mit Einsteins Relativitätstheorie verbundenen Paradigmenwechsels gewesen, besonders im Blick auf das prozessuale und dynamische Verständnis von Welt und Kosmos, das die statische klassische Physik revolutionierte. Bezüglich des Dialogs mit den Neurowissenschaften halten die Autoren angesichts reduktionistischer materialistischer Versuche der Bestreitung von Geist und Seele oder menschlicher Willensfreiheit fest: »Es existiert kein Gegensatz zwischen Theologie und Neurowissenschaft als solcher, sondern es gibt theologischen Positionen zuwiderlaufende Interpretationen neurowissenschaftlicher Er­gebnisse« (89), da es sich bei der Bestreitung der Dimension des Geistes um ein rein weltanschauliches Postulat handelt. Der Dialog mit den Sozialwissenschaften liegt für die Autoren schon insofern auf der Hand, als die Theologie als Orientierungswissenschaft das individuelle und gesellschaftliche Leben im Licht des Glaubens orientiert. Theologie bediene sich allerdings einer größeren Methodenvielfalt und konfrontiere rein empirische Befunde mit der idealisierenden Wahrheit des Glaubens, was eine differenziertere Wirklichkeitswahrnehmung ermögliche und aus der Gebundenheit an rein empirische Fakten befreie.
Die im 4. Kapitel folgende Erörterung von Modellen des Verhältnisses von Glaube und Wissenschaft bezieht sich dann wieder allein auf das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, ebenso wie die Darlegung wechselseitiger Kritik von Glaube und Wissenschaft im 5. Kapitel. Als Dialog-Modell wird das Unabhängigkeits-Modell genannt, das Theologie und Naturwissenschaft ihre jeweiligen Erkenntnisgegenstände und -methoden zuweist. Dieses Modell ermögliche eine dialogische Koexistenz, in der die an der Anrede Gottes orientierte Theologie die »Tatsachenkonformität« ihrer Einsichten an den Ergebnissen der Naturwissenschaften abgleichen könne, während die an Experiment und mathematischer Formalisierung orientierte Naturwissenschaft durch die Theologie vor weltanschaulicher Überhöhung solcher begrenzter und rein empirischer Einsichten bewahrt werden könne. Damit beinhaltet dieses Modell zugleich Aspekte gegenseitiger Kritik, bei der Theologie besonders hinsichtlich der ethischen, politischen und kulturellen Verantwortung im Umgang mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und entsprechenden Technologien gefragt sei (z. B. Atomtechnologie, Gentechnologie, Ausgrenzung der Armen und Machtlosen). Ferner nennen die Autoren das Mo­dell der metaphysischen Integration von Theologie und Naturwissenschaft, wie etwa die Prozesstheologie, in der konkrete wissenschaftliche Ergebnisse mit Einsichten über das göttliche Handeln verbunden werden (z. B. das dynamische heilsgeschichtliche Handeln Gottes im Kontext des dynamisch-prozessualen Verständnisses des Kosmos). Die Autoren mahnen, sich bei den Ausprägungen dieses Modells des spekulativen Charakters bewusst zu bleiben. Umgekehrt stellt sich allerdings angesichts von Unabhängigkeitsmodellen, die Naturwissenschaften nur auf Experiment und mathematische Formalisierung reduzieren und Schöpfungstheologie auf die Reflexion der schlechthinnigen Abhängigkeit der Welt von Gott (Schleiermacher), die Frage, ob hier die methodische Komplexität moderner Naturwissenschaften in ihrer weltanschaulichen Eingebundenheit und die im Schöpfungsglauben enthaltenen Orientierungen als Voraussetzung einer konkreten Vermittlung von Welt- und Gotteserkenntnis zur Geltung kommen.
Insgesamt ist den Autoren für den Versuch zu danken, die für das Glaubensleben wichtige Zuordnung von Glaube und Wissenschaft für eine breitere Leserschaft zu öffnen, da besonders der Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Übereinstimmung von Glaubens- und Lebenswirklichkeit zukommt.