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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

397-399

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Scherzinger, Gregor

Titel/Untertitel:

Normative Ethik aus jüdischem Ethos. David Novaks Moraltheorie.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. 480 S. = Studien zur theologischen Ethik, 141. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-7278-1756-4 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-34189-2 (Verlag Herder).

Rezensent:

Markus Krah

Der 1941 geborene, in Toronto lehrende amerikanisch-jüdische Religionsphilosoph David Novak dürfte in Deutschland nur Fachkollegen näher vertraut sein, die sich mit Naturrecht und ethischer und politischer Theorie aus jüdischer Sicht befassen. Gregor Scherzinger, der an der Universität Luzern zum Thema Sozialethik forscht, legt nun die erste deutschsprachige Monographie zu No­vak vor, die diese Elemente in ein Gesamtbild integriert und kritisch analysiert. Das Buch beruht auf S.s Dissertation, mit der er, betreut vom inzwischen emeritierten Theologen und Ethiker Adri an Holderegger, 2013 im schweizerischen Fribourg promoviert wurde.
In seinem Buch rekonstruiert S. den Versuch Novaks, aus jüdischen, also partikularen Quellen eine Ethik mit universalem Anspruch zu entwickeln. Novaks Moraltheorie ist dabei so eng mit seinen Vorstellungen von der Rolle religiöser Gemeinschaften in der Öffentlichkeit verbunden, dass S. auch Novaks politische Theorie in den Blick nimmt. Kern der Arbeit ist die kritische Rekonstruktion von Novaks Werk, an die S. die Frage anschließt, welche Anknüpfungspunkte dieses für katholische Moraltheologie bietet.
In einem biographischen Porträt stellt S. zunächst Novaks intellektuelle Prägungen an der University of Chicago, unter anderem durch Leo Strauss, und der katholischen Georgetown University dar (16–26). Zwischen diesen beiden Stationen lag sein 1966 abgeschlossenes Rabbinatsstudium am Jewish Theological Seminary (JTS) in New York, das zur zentristischen Strömung im Judentum gehört. Novak selbst ist einem davon inzwischen abgespaltenen, traditionalistischen Flügel zuzurechnen, der der Orthodoxie nä­hersteht. Wie S. nachzeichnet, kreist Novaks Denken um die Fragen nach Universalismus und Partikularismus im Diskurs moderner pluralistischer Gesellschaften über religiöse und ethische Themen. Breit gestützt auf die einschlägige Literatur situiert S. seine Arbeit in diesem Forschungsfeld. Die wichtigsten Quellen für Novaks Denken sind dessen Monographien Jewish Social Ethics (1992), Natural Law in Judaism (1998), Covenantal Rights (2000) und The Jewish Social Contract (2005).
S. präsentiert Novaks Denken als Gegenkonzept zu liberalen Modellen, deren scharfe Unterscheidungen (Religion/Gesellschaft, Gerechtigkeit/gutes Leben) Novak mit Hilfe der Naturrechtstheorie überwinden will. Um sein Alternativmodell aus der eigenen Tradition zu begründen, muss Novak das Konzept eines jüdischen Naturrechts zunächst gegen innerjüdische Kritiker verteidigen, die von einem offenbarten positiven Gesetz ausgehen (49–95). S. analysiert, wie Novak dagegen in der Torah und ihrer rabbinischen Interpretation, in den Noachidischen Geboten sowie in der Schöpfungstheologie die Fundamente für ein jüdisches Naturrecht findet. Dieses wird zur Schnittstelle von Philosophie und Theologie, die allerdings hierarchisch geordnet sind: Die Philosophie wird »als ancilla theologiae« integriert, wie S. schreibt (137).
Doch ist Novak, wie S. darstellt, darauf bedacht, partikulare theologische Inhalte nicht zum Hindernis für sein Universalität beanspruchendes Naturrecht zu machen. Er erreicht dies durch einen minimalistischen Naturbegriff, in dem spezifisch jüdische Elemente weitgehend reduziert sind. So wertet er etwa die universale Schöpfung gegenüber der partikularen Offenbarung auf. Das Naturrecht ist nicht die Grundlage der positiven Gesetze, sondern, in S.s Worten, ein »heuristisches Mittel« zu ihrer Erklärung (183). Für Novak dient ein solcher Naturrechtsbegriff einem politischen Zweck: normative Positionen der eigenen partikularen Tradition in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Er präsentiert sein politisches Modell als eine Alternative zu Vertragstheorien und ihrem Glauben an das autonome Individuum. Novaks theonom verstandenes Naturrecht sieht dagegen religiöse Gemeinschaften als konstitutiv für moralisch und rechtlich stabile, pluralistische Gesellschaften.
Der Gewinn von S.s Arbeit für den Leser liegt jenseits der plausiblen Rekonstruktion eines Moraltheorie und politische Theorie integrierenden Denkens vor allem in der anschließenden Kritik dieses integralen Ganzen, die die Hälfte des Buchs einnimmt. S. überprüft die Stringenz von Novaks Denken anhand politischer Beispiele aus dem Bereich der Bioethik, vor allem aber im Kontext der politischen Theorie (219–384). Seine Analyse von Novaks Argu­mentation zu Stammzellforschung und Abtreibung zeigt, dass Novak die Universalität der jüdischen Norm allein mit Verweis auf ihre naturrechtliche Fundierung postuliert, ohne dafür aber in seinem Naturbegriff eine hinreichende Grundlage zu haben (241).
Die anschließende, breit angelegte theoretische Kritik bestätigt den Befund einer defizitär-problematischen Position. S. kommt zum Ergebnis, dass sich Novaks Naturrechtstheorie auf die Akzeptanz seiner politischen Theorie stützen muss, da Erstere für sich genommen nicht genügend Plausibilität für eine gesellschaftliche Wirkung hätte (344). Die kritische Analyse von Novaks in einer Bundestheologie gegründeten, im Ansatz kommunitaristischen Theorie lasse offen, wie bei Novak der Einzelne vor den autoritä-ren Ansprüchen einer Religionsgemeinschaft geschützt werde. S. schließt seine Kontextualisierung von Novaks Denken daher mit dem Fazit: »Religionstraditionen sind nicht per se die besten Türhüter des Gesetzes.« (427) Damit stellt er einen Kern von Novaks politischer Theorie und damit seines gesamten intellektuellen Bauwerks grundsätzlich in Frage. (Novak stand S. als Gesprächspartner zur Verfügung und steuerte ein wohlwollendes Vorwort bei, in dem er jedoch nicht inhaltlich auf die stets respektvoll und sachlich vorgetragene Kritik eingeht.)
S. schlägt Korrekturen in Novaks Denken vor (429–448). Um die systematischen und empirisch belegbaren Schwächen zu korrigieren, müsse dieser die epistemologischen Grenzen eines religiösen Bewusstseins anerkennen und auf sein theonomes politisches Konzept anwenden. Diese Relativierungen würden den Weg zu einem Dialog mit säkularen Denkansätzen öffnen, deren Legitimität Novak durch sein axiomatisches Primat des Religiösen verneint. S. verweist auf die aus christlicher Perspektive erfahrene »reinigende Wirkung« des säkularen Denkens, die sich vor allem in der bei Novak unterbelichteten sozialen Praxis der Religionsgemeinschaften erweise. (438)
Im zusammenfassenden Schlusskapitel präsentiert S. einige, allerdings eher allgemeine Überlegungen zur Auseinandersetzung christlicher Ethik mit Novaks Modell. Er wertet Novaks Denken als »ein Beispiel dafür, dass die Partikularität von Werten nicht mit deren Partikularismus gleichzusetzen ist, beziehungsweise eine partikulare Wertetradition durchaus bereit sein kann, eine universalistische Perspektive einzunehmen«, wodurch sie auch ihre Kritikfähigkeit nach innen stärke. So stimmt S. dem Grundanliegen Novaks zu: »Es wäre ein gesellschaftlicher Verlust, universalistische Moral und religiöse Wertvorstellungen als zwei Komplexe zu verstehen, die voneinander zu trennen sind.« (456)
Zu dieser Frage ist auch S.s Buch ein überzeugender Beitrag. Das gut lesbare Werk nimmt auch den mit Novaks Themen nicht vertrauten Leser an die Hand und führt ihn Schritt für Schritt durch die Analyse. Dagegen macht das Fehlen von Registern den gezielten Zugriff auf einzelne Themen oder Personen schwieriger.