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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

394-395

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Michalson, Gordon [Ed.]

Titel/Untertitel:

Kant’s ›Religion within the Boundaries of Mere Reason‹. A Critical Guide.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2014. XIV, 266 S. = Cambridge Critical Guides. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-107-01852-5.

Rezensent:

Hermann Deuser

Kant, der Autor der drei Kritiken, hat sich der Geschichte der Religionsphilosophie und philosophischen Theologie unvergesslich eingeprägt durch seine fundamentale (erkenntnistheoretische) Kritik der traditionellen Gottesbeweise (1. Kritik), das moralisch begründete und insofern notwendige Gottespostulat (2. Kritik) bzw. den aus der Teleologie der Natur plausibilisierten Gottesglauben in praktischer Absicht (3. Kritik). Die eigentliche Religionsschrift aber erscheint nach den berühmten Kritiken: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94), sie hat in der längeren Wirkungsgeschichte weniger Bedeutung gewonnen und ist bis heute der Frage ausgesetzt, ob sie nach dem zuvor über Religion schon Gesagten überhaupt Neues zu bieten habe. Hat Kant sich vielleicht doch unter der Hand korrigiert, wenn jetzt die Religion selbst gewissermaßen Gegenstand einer eigenen »Kritik« wird?
Der Critical Guide hilft zur Wiederentdeckung der Faszination dieser Spätschrift Kants, und zwar für Philosophie wie Theologie gleichermaßen. Dazu gehört allerdings der Verdacht, dass dieses Werk mit seinen überbordenden Themen, religionsgeschichtlichen Materialien, lebensnahen Beispielen und vor allem mit seinem Gedankenreichtum der Theologie zu philosophisch und der Philosophie zu theologisch erscheinen könnte; vielleicht liegt es daran, dass »Kant’s efforts to provide definitive orientation regard­ing the work’s content were hardly conclusive« (so der Hrsg. G. E. Michalson in der Einleitung). Die zwölf Beiträge dieses kompakten Sammelbandes gehen diesen Schwierigkeiten nach, versuchen Be­griffe, Argumente und historische Kontexte zu klären bzw. auf heutige Fragestellungen zu beziehen. Dabei wird überwiegend die englischsprachige Forschungsdiskussion einbezogen und teilweise mit deutschen Kant-Interpretationen integriert. O. Höffe (1.) eröffnet den Band mit einem sehr hilfreichen Überblick zu den Besonderheiten der Religionsschrift im Vergleich mit den Kritiken und am Beispiel von Kants Umgang mit dem Anspruch heiliger Texte. Wie sind autonome Moral und Offenbarung, bei Respekt vor Letzterer, zu vereinbaren? – A. W. Wood (2.) und I. U. Dalferth (3.) analysieren die komplexe Position des Aufklärers Kant (im »Ersten Stück« der Schrift), die mit seiner bis heute beeindruckenden Lehre vom »radikal Bösen in der menschlichen Natur« verbunden ist; zugleich ein roter Faden, der in allen folgenden Beiträgen erkennbar bleibt. – A. Hills (4.) und A. Chignell (5.) gehen den Weg der genauen Begriffsbestimmung: Ist »Gesinnung« als »Metamaxime« in Handlungssituationen zu verstehen? Lässt sich durch Festhalten der realen Möglichkeit von »Hoffnung« deren Begrenzung auf die Bedingungen des empirischen Verstandes lockern? – L. Stevenson (6.) und K. Ameriks (7.) arbeiten mit textnahen Interpretationen: zum Begriff der »Gnade« entlang den Schlussanmerkungen Kants jeweils am Ende der »Stücke« I – IV; zur Diskussion über »Wunder« im Rahmen der »Stücke« I und II. – M. Kuehn (8.) kontextualisiert Kants Jesus-Darstellung in der bibelwissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit, z. B. in den Kontroversen um Reimarus und Semler. – N. Tampio (9.) interpretiert Kants religionspolitische Position im Licht heutiger politischer Philosophie (J. Rawls). – P. Muchnik (10.) vergleicht die Sozialität der Religion bei Kant (vgl. »Drittes Stück«) mit der exemplarischen Gegenüberstellung von liberal-individualistischer (R. Rorty) und konstruktiv-öffentlicher (N. Wolterstorff) Funktion der Religion in der Moderne. – G. F. Munzel (11.) und R. Velkey (12.) kommen auf die Leitfrage nach der Eigenständigkeit der Religionsschrift im Verhältnis zur praktischen Philosophie Kants zurück: Zu deren Vollständigkeit gehört nachdrücklich ein Vertrauen und Hoffen, d. h. ein reflektierter, »praktischer Glaube«; und dieser muss den Gegensatz von »radikal böse« und Autonomie der Freiheit zum Austrag bringen.
Kants Religionsschrift markiert selbst die Schwierigkeiten, mit diesen Spannungen umzugehen. Die Einlassungen auf die christlich-theologische Tradition sind ebenso tiefgehend wie der Appell gegen den »Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion« (vgl. »Viertes Stück«) und für den Vorrang der rationalen Moralität. Ist der Einwand berechtigt, Kants Vernunftreligion sei nicht mehr als »a secularized form of pietism« (M. Kuehn, 157)? Positiv gesagt: Kant anerkennt den weitergeltenden Rang der Religion aus »praktischen« Gründen, und die Religionsschrift trägt dazu mit dem Modell einer rationalen, säkularisierten Form von Christentum bei, ein Modell, für das Kant Judentum und Islam nicht geeignet erscheinen (Tampio, 184 f.). Die Diagnose (»radikal böse«) und Therapie (Autonomie des Willens) sind je für sich konsequent, ihr Zusammenstimmen in einem systematischen Sinn zeichnet sich so noch nicht ab. Dalferth spricht von vier »fundamental mysteries« (76), die bestehen bleiben: dass es überhaupt etwas gibt; dass Menschen nicht vollständig determiniert sind (durch Naturkausalität), sondern frei; dass Menschen sich frei für das Böse entscheiden; dass das Böse trotzdem durch moralische Integrität überwunden werden kann. Man könnte auch von einer Doppelperspektive sprechen: dass der Wille einerseits als frei gedacht werden muss, obwohl andererseits der Begriff der »Gnade« erst die wirkliche Überwindung des Bösen erfassen lässt (L. Stevenson, 128 ff.132). Insofern bleibt Kant sich, im Sinne der drei Kritiken, einerseits treu – und erreicht doch andererseits ein sehr viel komplexeres, realistisches und respektables Verständnis des Religionsproblems in der Moderne.
Der Critical Guide, sehr gut ausgestattet mit Bibliographie und den nötigen Verzeichnissen, führt uns nicht nur in die Vergangenheit, sondern mitten in die bis heute unaufgelösten Spannungen der Religion mit Wissenschaft, Ethik und Politik.