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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

390-392

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

George, Martin, Herlth, Jens, Münch, Christian, u. Ulrich Schmid[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker. Übersetzung der Tolstoj-Texte aus d. Russischen v. O. Radetzkaja u. D. Trottenberg. Kommentierung v. D. Riniker.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 773 S. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-56007-5.

Rezensent:

Maike Schult

Auf manche Bücher hat man gewartet, ohne es zu wissen. Der vorliegende Sammelband ist so ein Buch, und die Bezeichnung »Sammelband« trifft es nur zum Teil. Es ist ein Arbeits- und Studienbuch, eine Quellensammlung mit Kommentierung, ein Autorenporträt, ein Stück europäischer Literatur- und Geistesgeschichte, Fundgrube, Inspiration, Kulturtransfer. Ein aus vielen Steinen zusammengesetztes Mosaik, das die Komplexität eines Mannes aufzeigt, den viele Deutsche kennen, aber nicht aus dieser Perspektive: der russische Schriftsteller Lev Tolstoj (1828–1910), hier be­leuchtet als Kirchenkritiker und theologischer Denker.
Die Herausgeber sprechen bewusst von seinem »theologischen« Denken (15–18). Denn auch wenn Tolstoj kein Kleriker und kein akademischer Theologe war, so hat er sich doch über viele Jahrzehnte mit biblisch-exegetischen, kirchlich-dogmatischen, religiös-philosophischen und sozial-ethischen Fragen befasst und hervorragende Kenntnisse angeeignet. Er war dabei von dem Wunsch getragen, eine kirchenlose Religion zu gründen, und verfuhr mit der christlichen Tradition nicht eben zimperlich: Nicht nur die Kirche, auch die Bibel erschien ihm verbesserungsbedürftig. Die Bergpredigt etwa sei in vielem überflüssig, mühsam zu lesen und »[n]och schlechter geschrieben als Dostoevskij.« (21) Darum fertigte er eine eigene Evangelienharmonie an, die er nach ihrem vernünftigen, zeitlosen und universalen Sinn neu erzählte. Sie sollte die biblische Wahrheit so präsentieren, dass sie ohne Interpreta-tion von Priestern, Theologen oder Kirchenfürsten auskommen kann (20). Kirchenslavische Wörter wurden durch russische ersetzt, »dunkle Stellen« neu erzählt oder ganz gestrichen, und am liebsten hätte er die unmittelbare Verständlichkeit der religiösen Wahrheit, wie er sie verstand, auf formelhafte Merksätze eingeschmolzen. An die Stelle der Autorität der Bibel trat das Kriterium der Verständlichkeit, und es gab für Tolstoj »keinen Zweifel, dass seine eigenen Zusammenfassungen des Evangeliums höher als der Originaltext standen.« (21) Er war dabei allerdings weniger von Erzähllust getrieben als von der Frage, wie das Evangelium in seinen Grundaussagen heute verstanden werden kann, und hat in seinem Exemplar verschiedenfarbige Unterstreichungen vorgenommen, um das Wesentliche herauszufiltern.
Seine Griechisch-Kenntnisse spielten ihm dabei ebenso zu wie seine Vertrautheit mit der historisch-kritischen Exegese des Protes­tantismus. Der Insiderblick in die orthodoxe Geistlichkeit fehlte ihm, doch »[s]eine autodidaktischen theologischen Studien machten ihn in seinem Urteil über die Russische Orthodoxe Kirche unabhängiger als die Absolventen ihrer Theologischen Schulen.« (402) Eine Unabhängigkeit, die nicht jedem gefiel: Seit den späten 1870er Jahren war die Beziehung zu seiner Herkunftskirche angespannt. Seine religiösen Traktate wurden verboten, und nachdem Tolstoj in dem Roman »Auferstehung« (1899) einen Gottesdienst, die Kirche würde sagen: karikiert und bloßgestellt, die Literaturtheorie hat befunden: produktiv verfremdet hatte, wurde er 1901 vom Heiligen Synod exkommuniziert. Dieser Bruch sorgte weltweit für Aufsehen und mag ein Grund gewesen sein, warum Tolstojs theologisches Denken nie gebührend gewürdigt wurde. Heute jedenfalls sind seine religiösen Schriften in Ost und West fast vergessen.
Das will der vorliegende Band ändern. Er präsentiert Briefe, Gebete, Aphorismen, Traktate und längere Textauszüge, die die Breite seines Denkens widerspiegeln. Sie zeigen einen Suchenden, der in seiner Kirchenkritik oft schroff und unversöhnlich war, aber zugleich »originell« (15), »unorthodox« und »revolutionär« (18), und dessen Gedankenvielfalt sich nicht in ein System bringen lässt. Viele haben an diesem Mosaik mitgestaltet und neue Facetten aufgetan. Die Idee dazu hatten die Schweizer Christian Münch (Historische Theologie) und Ulrich Schmid (Slavistik), die den »genialen Künstler« nicht länger gegen den »flachen Denker« (14) ausspielen, sondern Kontinuitätslinien aufzeigen wollten, um den lang »verkannten späten Tolstoj« (9) zu rehabilitieren und gegen die übliche Rezeptionspraxis zu zeigen, »dass Kunst und Moral, Narration und Predigt bei Tolstoj stets Hand in Hand gehen.« (11)
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Nach einem Vorwort der Herausgeber und einer Einleitung (11–33), die in die Problematik und den Forschungsstand einführt, kommt zunächst Tolstoj selbst zu Wort. Der Quellenteil (35–318) präsentiert ausgewählte Texte, die seine theologischen und kirchenkritischen Positionen deutlich machen. Sie wurden von Olga Radetzkaja und Dorothea Trottenberg neu, zum Teil sogar erstmals ins Deutsche übersetzt und durch Daniel Riniker hilfreich eingeleitet.
Der zweite Teil umfasst Aufsätze zu »Tolstojs Theologie« (319–730). 20 Fachleute aus Theologie, Philosophie und Slavistik beleuchten hier den konzeptionellen Hintergrund seiner Ideen und ihre Rezeptionsgeschichte im 20. Jh. Im ersten Schritt werden »Kernkonzepte« vermittelt: Glaube und Vernunft, Offenbarung und Bibel, Jesus Christus (C. Münch); Gott und Kirche (Martin George); Religion und Anthropologie (Holger Kusse); Staat und Gesellschaft (Jens Herlth) sowie Kunst (Sylvia Sasse). In einem zweiten Schritt wird Tolstojs Auseinandersetzung mit der Philosophie und den religiösen Traditionen dargestellt: mit Jean-Jacques Rousseau (Jens Herlth); Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, mit Anarchismus, Katholizismus, Islam (U. Schmid); Friedrich Nietzsche (Ilja Karenovics); Sozialismus (Olga Caspers); Orthodoxie (Pål Kolstø); Protestantismus (Erich Bryner); Judentum (Rainer Goldt) und Bud­dhismus (Radha Balasubramanian). Ein dritter Abschnitt schließlich behandelt die »Rezeption und Wirkung der Theologie Tolstojs« auf die Russisch Orthodoxe Kirche (Georgij Orechanov), die russische Religionsphilosophie (Regula Zwahlen), protestantische Theologie (Martin Tamcke), den Katholizismus (U. Schmid), Marxismus (O. Caspers) und religiösen Sozialismus in der Schweiz (C. Münch), auf Ludwig Wittgenstein (Robert Hodel), den Existentialismus (Rainer Grübel), Mahatma Gandhi (Ludger Udolph), Rudolf Steiner (I. Karenovics), die Stundisten in der Ukraine (Sergei Zhuk) sowie die Duchoborzen in Kanada (Andrew Donskov).
Alle Beiträge sind fundiert geschrieben, leserfreundlich präsentiert und mit einem Anmerkungsapparat versehen. Sie folgen den Formvorgaben der Slavistik, etwa der wissenschaftlichen Transkription, können sich aber auch auf Höhe der anderen Disziplinen bewegen und auf die sonst oft üblichen weltanschaulichen Instrumentalisierungen und Deutungshoheiten in diesem Grenzgebiet verzichten. Abgerundet wird der Band durch ein Verzeichnis der theologischen und sozial-religiösen Schriften Tolstojs, eine Bibliographie ihrer deutschen Übersetzungen, ein Personen-, Stichwort- und Werkregister sowie ein Verzeichnis der Autoren und Autorinnen. So ist insgesamt ein wissenschaftlich ansprechendes, gut informierendes Buch gelungen, das sicher nicht nur die Tolstoj-Forschung bereichert, sondern auch dem interdisziplinären Austausch zwischen Theologie und Slavistik Standards setzt. An ihm lässt sich vieles in nuce studieren, was Europa bis heute beschäftigt.