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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

383-385

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Fleischer, Dirk [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Über die Beschaffenheit und Absicht der Versuchung Christi in der Wüsten. Eine Untersuchung von Hugo Farmer. Aus d. Engl. übers. v. J. M. Schwager. Hrsg. u. eingel. v. D. Fleischer.

Verlag:

Nordhausen: Traugott Bautz 2013. XLI, 239 S. = Religionsgeschichte der frühen Neuzeit, 16. Geb. EUR 45,00. ISBN 978-3-88309-820-3.

Rezensent:

Frank Stückemann

Die »überfällige Rehabilitation des bemerkenswerten Ravensberger Aufklärers Johann Moritz Schwager (1738–1804)« – vgl. Hans Kastrup in Ravensberger Blätter 2011/1 – wird konsequent vorangetrieben, vor allem durch die Literaturkommission für Westfalen. Zu Schwagers 275. Geburtstag wird von dieser unter dem Titel »Verkan[n]t und verschwägert« eine Ausstellung im Museum für Westfälische Literatur auf Haus Nottbeck bei Stromberg eröffnet, gestaltet durch die Kölner International School of Design. Der Ausstellungskatalog – »Er war ein Licht in Westfalen«. Johann Moritz Schwager (1738–1804). Ein westfälischer Aufklärer. Hrsg. v. W. Gödden, P. Heßelmann und F. Stückemann – enthält Beiträge von 16 Autoren aus allen Bereichen der Geisteswissenschaft; ferner erscheint zum Ausstellungsbeginn eine zweibändige Werkausgabe mit Schwagers sämtlichen Romanen und seiner Reisebeschreibung in den Veröffentlichungen der Literaturkommission.
Fast zeitgleich legt nun der Theologe und Historiker Dirk Fleischer seine o. g. Publikation vor. Als ausgewiesener Kenner des 18. Jh.s hatte er nicht nur zu besagtem Ausstellungskatalog einen Beitrag über den sogenannten »Teufelsstreit« geliefert, sondern sich schon seit etlichen Jahren durch zahlreiche Publikationen und Re-editionen von einschlägigen Werken zu diesem Thema einen Na­men gemacht. Zu letzteren gehören u. a. einige für die moderne Theologie maßgebliche, aber längst vergriffene Werke von Johann Salomo Semler (1725–1791), etwa die Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen (Halle 1776, Waltrop 2004), die Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zwecke Jesu und seiner Jünger (Halle 1779, Waltrop 2004) oder Ueber historische, gesellschaftliche und moralische Religion der Christen (Leipzig 1786, Nordhausen 2009).
Fleischer erkannte, dass für die metaphysische Abschaffung des Teufels in der Theologie Semlers vor allem die Schriften des englischen Theologen Hugh Farmer (1714–1787) von zentraler Bedeutung waren. Entsprechend hatte er bereits im Jahre 2000 Farmers Versuch über die Dämonischen des Neuen Testaments in der Übersetzung des Oerlinghausener Pfarrers und späteren Lippischen Landessuperintendenten Ludwig Friedrich August v. Cölln (1753–1804) sowie Farmers Briefe an D. Worthington über die Dämonischen in den Evangelien, in der Übersetzung des Züricher Theologen Heinrich Corrodi (1752–1793) neu ediert und eingeleitet (erschienen in der Reihe Wissen und Kritik 18 und 20, Waltrop 2000). Beide Publikationen erfahren nun durch den o. g. Titel eine sinnvolle Ergänzung.
Farmer entstammte einer freikirchlichen Theologenfamilie aus Shrewsbury und war ein Schüler von Philip Doddridge (1702–1751) an dessen Akademie zu Northamton. Später wurde er »independentischer« Prediger und Privatgelehrter in Walthamstow (heute ein Stadtteil des Großraums London). Von seinen Zeitgenossen hoch geachtet, geriet er nach seinem Ableben jedoch rasch in Vergessenheit.
Semlers »sehr werther Freund«, der Jöllenbecker Pfarrer und Aufklärer J. M. Schwager, war 1775 durch eine Besprechung von Farmers Essay on the Daemoniacs in the New Testament (London 1775) in der Englischen allgemeinen Bibliothek vom April 1775 auf diesen aufmerksam gemacht worden (vgl. Fleischers Einleitung »Jesus und der Teufel. Hugh Farmers Deutung der Versuchung Jesu durch den Teufel«, XXVII). Diese trug den englischen Titel mit der deutschen Fassung »Versuch über die dämonischen Leute im Neuen Testamente« als Überschrift. Hierunter sollte 1776 eine Übersetzung von Farmers Werk aus der Feder des Berliner Kirchenrats und Hofpredigers Peter Bamberger (1722–1804) erscheinen, womit er auch als Verfasser der genannten Rezension feststeht. Ein Jahr später übersetzte Bamberger einen weiteren Titel Farmers: die Abhandlung über die Wunderwerke, als Beweise einer göttlichen Vermittlung, wie auch der Göttlichkeit der Sendung und Lehre eines Propheten (Berlin 1777).
J. M. Schwager animierte v. Cölln zur Übersetzung von Farmers Versuch über die Dämonischen, gewann Semler für ein Vorwort und brachte das Werk 1776 bei seinem Berliner Verleger Johann Henrich Cramer (1737–1804) unter; er selbst übersetzte derweil Farmers Untersuchung Ueber die Beschaffenheit und Absicht der Versuchung Christi in der Wüsten (Bremen 1777). Die Entstehung bei­der Publikationen beschreibt er in seiner einleitenden Dedikationsepistel zu letztgenanntem Titel an den Berliner Oberkonsistorialrat Anton Friedrich Büsching (1724–1793); vgl. 10–12.
Schwagers publizistisches Engagement ist aus mehreren Gründen bemerkenswert, zunächst als entscheidender Beitrag zum Teufelsstreit, insbesondere für die Ausbildung einer modernen, aufklärerischen Theologie bei Johann Salomo Semler: »Der Hallenser Theologe hat die Schriften Farmers durch die Vermittlung des Jöllenbecker Pfarrers Johann Moritz Schwager kennengelernt« (IX).
Sodann erfuhr gerade die von Schwager übersetzte Schrift Farmers ein sehr nachhaltiges Interesse. Dieses ist an mehr als zehn Rezensionen abzulesen, die allerdings meist nach Maßgabe der traditionellen Theologie recht kritisch ausfielen (vgl. XXXVIII), vor allem aber an der 1782 zu Dresden erschienenen Zweitauflage. Sie bestätigt das von den Rezensionen durchgängig anerkannte sprachliche Niveau von Schwagers Übersetzung.
Ferner bietet Farmers Werk einen wirklichen methodischen Fortschritt im Vergleich zu den etwa vom englischen Deismus oder Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) erreichten Positionen, indem es nicht nur magische Glaubensvorstellungen und Kultformen aussondert, sondern mit der Destruktion der traditionellen Teufelsvorstellung eine Entfaltung der Lehre von Jesu Messianität verbindet (vgl. XXXII). Farmer sieht die Taufe und die Erzählung von der Versuchung Jesu in unmittelbarem Zusammenhang: Erstere ist ihm Einsegnung zum »hohen Amte des Messias« (vgl. 170), Letztere eine innere Vision bzw. ein prophetisches Gesicht; diese »machten Jesu mit seiner messianischen Bestimmung und den zukünftigen Problemen, mit denen er seiner Bestimmung folgend konfrontiert werden würde, bekannt. […] Ausdrücklich erteilt er [Farmer] in diesem Zusammenhang auch allen machtpolitischen Messiasvorstellungen eine klare Absage« (XXXIV f.).
Eine solche radikale »Modernisierung der theologischen Theoriebildung« (XXXIX) findet sich nach Auffassung des Rezensenten erst bei Albert Schweitzer (1875–1965) und seiner Schrift Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis; eine Skizze des Lebens Jesu (Tübingen 1901) oder in Anders Nygren, Christus und seine Kirche (Göttingen 1956), wieder. Es handelt sich um eine natürliche Theologie nicht nur des ersten Artikels (von der Schöpfung), sondern auch des zweiten und dritten Artikels (Christologie und Lehre vom Heiligen Geist). Die Beschreibung der Versuche, womit sich die traditionelle Schultheologie um derartige Positionen herumdrückte, ließ Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von der ersten bis zur zweiten Auflage (1906 bzw. 1913) um mehr als das Doppelte anwachsen; seine medizinische Dissertation Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik (Tübingen 1913) dokumentiert die fortschreitende Verzwergung des Riesen: Messianitätsbewusstsein erscheint als Größenwahn, Jesus wird für unzurechnungsfähig erklärt, das Neue Testament als Schöpfung der ur­christlichen Gemeinde ausgegeben, atomisiert und als historische Quelle unbrauchbar gemacht, damit kirchliche Dogmatik frei im Raume schwebend nach Belieben mit hoher Hand betrieben werden kann.
Demgegenüber ist Farmer ein Historiker von Gottes Gnaden, welcher mit seiner Abhandlung Über die Beschaffenheit und Absicht der Versuchung Christi in der Wüsten vielleicht sogar noch vor Reimarus einen Ehrenplatz in Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung verdiente, wenn er nicht – wen wundert’s – in völlige Vergessenheit geraten und dem großen elsässischen Theologen unbekannt geblieben wäre. Es ist das bleibende Verdienst Schwagers, Farmer als einen der »profiliertesten Theologen seiner Zeit« (XXX f.) erkannt, übersetzt und dadurch der Theologie Semlers einige sehr entscheidende Impulse versetzt zu haben.
Man kann nur bedauern, dass die Rezeption und Nachwirkung Farmers durch den beginnenden Fragmentenstreit zwischen Lessing und Johann Melchior Goeze (1717–1786) überlagert worden ist; mit der testamentarischen Verfügung Farmers, seinen gesamten Nachlass – darunter auch die Korrespondenz mit seinem Jöllenbecker Übersetzer – zu verbrennen, hat er als Ireniker die Publikation noch grundsätzlicherer »Fragmente« als die Wolfenbütteler verhindern wollen. Aber auch so bleiben die Schriften Farmers unbedingt lesenswert und ihre Neuedition durch Herrn Fleischer unbedingt zu begrüßen.