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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

326-328

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Seland, Torrey [Ed.]

Titel/Untertitel:

Reading Philo. A Handbook to Philo of Alexandria.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2014. XVI, 345 S. Kart. US$ 45,00. ISBN 978-0-8028-7069-8.

Rezensent:

Christian Noack

Aktuelle Einführungen zu Philo gibt es mittlerweile mehrere an der Zahl. Im letzten Jahrzehnt sind erschienen: Kenneth Schenk, A Brief Guide to Philo (2005), Adam Kamesar, The Cambridge Companion to Philo (2009), Mireille Hadas-Hebel, Philo of Alexandria (2003 franz., 2012 engl.), und kürzlich auch in deutscher Sprache vom Altmeister Otto Kaiser »Philo von Alexandrien: Denkender Glaube – eine Einführung« (2015). Auch Torrey Seland ist es gelungen, eine Reihe von international renommierten Philoforschern (Gregory E. Sterling, Ellen Birnbaum, David T. Runia) zu gewinnen, wobei die Erstpräferenz Philonisten aus dem skandinavischen Bereich waren (Peder Borgen, Karl Gustav Sandelin, Erkki Koskenniemi, Per Jarle Bekken).
Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil beansprucht, Philo in den Kontext seiner Zeit einzubetten: als jüdischen Weisheitslehrer (Karl Gustav Sandelin, Philo as a Jew), als Politiker (Torrey Seland, Philo as a Citizen: Homo politicus), als Exegeten (Peder Borgen, Philo – An Interpreter of the Laws of Moses) und als hellenistisch sozialisierten jüdischen Bildungsbürger (Erkki Koskenniemi, Philo and Classical Education; Gregory E. Sterling, The Jewish Philosophy: Reading Moses via Hellenistic Philosophy according to Philo).
Der zweite Teil möchte die Fragen beantworten, warum und wie Philo zu studieren ist: Zunächst werden übersichtlich die aktuellen Hilfsmittel zum Studium Philos vorgestellt (Torrey Seland, Why Study Philo? How?), es folgt eine methodologisch angelegte Studie aus dem Jahr 1993, die untersucht, wie aus den exegetischen Texten Philos sozialgeschichtliche Informationen zu entnehmen sind (Adele Reinhartz: Philo’s Exposition of the Law and Social History). Zwei weitere Aufsätze wenden sich der Relevanz Philos für das Studium des antiken Judentums und des Neuen Testaments zu. Der Band schließt mit einer von David T. Runia erstellten Liste direkter Referenzen in der patristischen Tradition zu Philo ab. Hilfreich ist eine ausführliche Bibliographie, in der relevante deutsche Forschungsbeiträge der letzten 20 Jahre leider nicht auftauchen – auch nicht in den Beiträgen.
Das besondere Profil des von Seland herausgegebenen Handbuches soll sein, dass es Master-Studierenden und Doktoranden ein Hilfsmittel an die Hand gibt, zu Philo einen Einstieg, aber auch Anregungen zu noch nicht beackerten Feldern der Philoforschung zu erhalten. Wird dieses Versprechen, das Seland in seiner Einführung ausführlich begründet, eingehalten? Welche Anregungen für Forschungsvorhaben bietet der Band? Ich greife auf, was aus meiner Sicht besonders vielversprechend ist.
Sandelin stellt Philo als Weisheitslehrer vor und sieht ihn als einen Repräsentanten der jüdischen Weisheitstradition, die er allerdings kaum sichtbar macht. Philo in diese jahrhundertelange Tradition einzubetten und auch die sozialgeschichtlichen Orte dieser Weisheit genauer zu eruieren, ist eine noch ungelöste Aufgabe der Erforschung des altorientalischen und antiken Judentums.
Wie sehr Philo als Lehrer der Weisheit auch herrschaftsnah und damit politisch agierte, macht Seland in seinem viele politische Facetten berücksichtigenden Artikel deutlich. Der Artikel macht im Gespräch mit E. Goodenough’s »The Politics of Philo Judaeus« (1938) bewusst, wie komplex die Aufgabe bleibt, Philos mit Staat und Herrschaft verbundene Überzeugungen nachzuzeichnen.
Wie sehr Philos weisheitliches Denken Anschluss an die griechische Kultur und Philosophie gefunden hatte, wie stark er als gläubiger Jude zugleich gebildeter Hellene war, zeigen Koskenniemi und Sterling auf. Sozialgeschichtlich und soziologisch wäre in Zu­kunft noch stärker herauszuarbeiten, welches Profil dieses Milieu im Judentum hatte, das sich in der Lage sah, zugleich ganz hellenistisch und ganz jüdisch zu denken und zu leben. Dass die Expositio Legis reichhaltigen Stoff für sozialgeschichtliche Beobachtungen zum jüdischen (Familien-)Leben in Alexandria bietet und wie dies methodisch zu erschließen ist, zeigt der schon etwas ältere Text von Reinhartz auf. Philo erscheint im Blick auf Familie eher konservativ und patriarchal – ganz im Trend augusteischer Familienpolitik. Gilt diese Tendenz auch für andere Lebensbereiche?
Das Feld »Philo und das Neue Testament« betritt Bekken auf ungewohnten Pfaden; er sucht nicht nach Parallelen, die auf Abhängigkeit hindeuten, sondern nach ähnlichen exegetischen Methoden und ähnlichen theologischen Vorstellungen, Motiven und Metaphern. Er ist damit auf der Seite derjenigen Forscher, die davon ausgehen, dass neutestamentliche Autoren nicht direkt von Philo »gelernt« haben, sondern mit Philo gemeinsame Traditionen teilen. Dennoch bleibt es eine reizvolle Aufgabe für die Forschung, direkteren Einfluss Philos auf die Autoren des Neuen Testaments aufzuzeigen (in diese Richtung geht der Artikel von Folker Siegert im Cambridge Companion to Philo).
Ich habe mich mit der Lektüre schwer getan. Das Bemühen, Philos Texte zu einem spannenden Forschungsgegenstand zu machen, ist sicherlich vorhanden, aber die Rhetorik der Aufsätze holt dieses Anliegen meiner Wahrnehmung nach nur selten ein. Wesentliche Einsichten werden aufzählend und meist ohne Spannungsbogen (besonders auffällig im Artikel von Peder Borgen) ausgebreitet. Anders geht es mir beim »Cambridge Companion to Philo« (ebenfalls neun Autoren), wo mich die Lektüre meist fesselt und tatsächlich Lust aufkommt, sofort damit zu beginnen, Philo zu lesen und zu verstehen.
Trotz durchweg richtiger Beobachtungen zu Philo und seinem Werk werden weder die Person Philos noch seine drei exegetischen Werkreihen (Expositio Legis, Quaestiones et Solutiones, Allegorischer Kommentar) ausreichend profiliert – wahrzunehmende Divergenzen, Spannungen und Brüche lassen sich in den Aufsätzen oft nur zwischen den Zeilen lesen. Eine entscheidende Einsicht der neueren Philoforschung, dass sich die drei großen exegetischen Werkreihen Philos eben nicht zu einer einheitlichen philonischen Theologie synthetisieren lassen (aufgrund formkritischer und soziologischer Beobachtungen), bleibt ganz außen vor. Der besondere Charakter der nur im Allegorischen Kommentar voll entfalteten Seelenallegorese mit einem Dualismus besonderer Art zwischen einem sich selbst setzenden gottlosen Denken und einem Denken, das sich ganz von Gott geschenkt sieht, wird nicht thematisiert.
Dennoch, die Faszination der Schriften Philos färbt auch auf diesen Sammelband so ab, dass die Lektüre in jedem Fall lohnt, weil einmal mehr an die herausragende Bedeutung Philos als jüdischer Intellektueller in der frühen römischen Kaiserzeit erinnert wird.