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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

273-275

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wegner, Gerhard

Titel/Untertitel:

Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas? x

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2014. 352 S. = Diakonik, 11. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-12694-8.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Der Autor Gerhard Wegner ist Direktor des Sozialwissenschaft-lichen Instituts der EKD und apl. Professor der Marburger theologischen Fakultät. Die auf die Einleitung folgenden, zum Teil schon an anderer Stelle veröffentlichten Texte deuten in eklektischer Weise verschiedene kirchliche Erhebungen zum Mitgliederbestand und überschneiden sich inhaltlich stark. Der letzte Essay enthält schlussfolgernde Zusammenfassungen (13 f.) und kann daher zur Vorstellung des gesamten Buches dienen.
W. behandelt hier die Frage: Wie können wir die Bindung an die Kirche stärken? (151–169) Angesichts der schnell schwindenden Mitgliederzahlen der Landeskirchen erwartet W. für die Konsolidierung dieser Institutionen wenig von der schweigenden Mehrheit in der Kirche, gar nichts von den im Austreten Begriffenen, einiges aber von »solchen Menschen, die in der Kirche verbleiben und in ihr mehr oder minder deutlich, bisweilen penetrant, auf Veränderungen klagen oder drängen (Voice Option)«. Diese dritte Gruppe will W. stärken (152).
W. gibt fünf Erfolgsfaktoren an, die zu einer besseren Kirchenbindung führen: Erstens, Freundlichkeit, Zugänglichkeit, Offenheit; hierzu gehören die Elemente einer Willkommenskultur, aber auch ein gutes Beschwerdemanagement (155–157). Zweitens, Vertrauensbildung (Integration, sozialer Nutzen); hier sind die Ebene der Integration der Gemeinden in die Gesellschaft und das Mitwirken der Funktionsträger in den örtlichen Sozialräumen zu nennen. Gelinge dies, können sich auch weltliche Funktionsträger für die Kirche begeistern (157–159). Drittens, Etwas wollen (Die Menschen werden von der Kirche gebraucht); dieses Wollen bewirke ein Kraftfeld, in dem die Menschen ihr Engagement als »inspirierte Differenz« verstehen können, bzw. sich selbst als Träger eines selbstbewussten Charismas (159–162). Viertens, Verpflichtungen (Eine Vision des guten Lebens); »Religiöse Menschen, die etwas wollen«, glauben meist, »dass sie das, was sie wollen, auch […] tun müssen« (163). »Dies prägt vor allen Dingen Initiatoren und Inspiratoren kirch-licher Aktivitäten. Wir haben es hier mithin also noch einmal mit einer kleineren Gruppe als die Gesamtheit der Kirchenmitglieder, aber auch als die Gesamtheit der ehrenamtlich oder sonst wie Tätigen, zu tun.« In dieser Rolle sollten sich auch die Pastoren wiederfinden (164 f.). Fünftens, das Ergriffensein ist der letzte Grund für den skizzierten Gemeindeaufbau.
»Das Geheimnis, zum Glauben zu kommen, lässt sich phänomenologisch als eine Art von Ergriffenwerden oder Ergriffensein in seinen inneren Gefühlswelten beschreiben, das letztendlich nicht auf eine eigene Wahl oder Entscheidung zurückzuführen ist, sondern ihr gerade vorausliegt und sie formt. Dabei ist zentral, dass solche Erfahrungen der Selbstevidenz oder der Epiphanie nicht als Heteronomie oder Fremdbestimmtheit verstanden werden.« (167)
Wie schon die Begrifflichkeit (Inspiration, Charisma, Vision, Erfahrung, drei[!]fach gestaffelte Kirchenmitgliedschaft) zeigt, stehen im Hintergrund dieser Gemeindeaufbautheorie klassische pietistische und charismatische Vorstellungen, verbunden mit modernen Klientenbindungsmechanismen. Allerdings ist W.s Vision zuge-gebenermaßen nicht wirklich durch die teilweise von ihm selbst durchgeführten Mitgliederbefragungen empirisch begründet. Denn diese Untersuchungen seien an sich ambivalent und gewinnen eine Kontur erst im »Auge des- oder derjenigen, die ihre Kirche wegen des in ihr geglaubten Geistes Gottes immer noch lieben und sich nach ihrer sichtbaren Schönheit sehnen« (13 f.).
Der Untertitel des Buches erweckt leider zu hohe Erwartungen. Denn eine an sich dringend notwendige Auseinandersetzung mit dem »liberalen Paradigma« findet hier nicht auf angemessenem Reflexionsniveau statt. W. befasst sich lediglich im Modus einer etwas triumphalistischen, en passant vorgetragenen Bestreitung mit einem »liberalen Kirchenverständnis«, das recht blass bleibt. Solche Bemerkungen finden sich vorwiegend in der Einleitung:
»Die ›liberale‹ Sicht auf Religion und Kirche stimmt nicht mehr. Das machen die Ergebnisse der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD deutlich. Die Zeiten, in denen man unwidersprochen behaupten konnte, alle Menschen hätten im Grunde religiöse Interessen, pflegten sie heutzutage allerdings höchst individualisiert, und der Geltungsverlust der Kirche läge daran, dass sie durch ihre Dogmatik und ihren autoritären Stil den Menschen nicht mehr gerecht werden würde, sind vorbei.«
Nach wie vor sei die Kirche in der Gesellschaft breit akzeptiert, vor allem als soziale »Wärmestube der Republik« (8). Hier gelte noch »das liberale Muster einer umfassenden Integration der Kirche in die Gesellschaft«. Aber W. befürchtet, dass der Kirche ihre religiöse Substanz abhandenkommen könnte, ohne die dann auch ihr ge­sellschaftlich akzeptiertes soziales Handeln hinfällig würde. »Auf die Dauer wird sich rein sozialmoralisch die Kirche selbst in die Unsichtbarkeit verabschieden. Wo das Interesse an Religion gar nicht mehr nachwächst, wird auch das soziale Engagement der Kirche erlahmen.« (9) Die »liberale Denke« habe gefordert:
»Bloß kein kirchliches oder religiöses Eigeninteresse in den Vordergrund stellen, das verschreckt die Leute! Schon gar keine Kritik an modernen Lebensformen, so egoistisch und lebensgierig sie auch daherkommen mögen. Die Differenz Kirche – Gesellschaft muss weg! In dieser Logik war es eigentlich verwunderlich, dass nicht noch mehr Menschen austraten. Tatsächlich wurde Kirche immer langweiliger – von gelegentlichen Charis­matikern abgesehen. Wer stets nur fragt, was andere denken, wird irgendwann selbst nicht mehr gefragt. Am Ende des liberalen Musters steht die Indifferenz.« (10 f.)
W. fordert, dass die Kirchen sich nicht mehr in erster Linie an die kirchlich Distanzierten wenden, sondern die Interessen der »intensiven Mitglieder« analysieren (11). Gemeinden sollen ihre religiösen Angebote in den Mittelpunkt rücken wie etwa religiöse Erziehung oder den Gottesdienst. Die liberale Strategie müsse durch eine kommunitaristische ersetzt werden:
»Eine neoliberale Strategie, die die Kirche auf den Einzelnen als religiösen Konsumenten zuschneiden würde, scheitert am Reproduktionsproblem solcher individualistischer Religion: Völlig individualisierte Religion – wenn sie denn überhaupt sichtbar werden kann – gewinnt keine Sozialgestalt. Wo es sie aber gibt – so könnte man erwarten – dockt sie an Formen selbstbewusster Religion (und Kirche) an.« (12)
Diese Verweise auf ein liberales Paradigma evozieren keine präzise Gestalt, sondern allenfalls ein amorphes Gespenst. Denn wenn der kirchliche Liberalismus sich in einer entinstitutionalisierten individuellen Religiosität zeigt – wie kann dann die »umfassende Integration der Kirche in die Gesellschaft« ein liberales Muster sein? Und wenn die völlig individualisierte Religion keine Sozialgestalt hat – warum sollte sie dann an kirchliche Formen selbstbewusster Religion andocken wollen? Sind »individualisiert« und »selbstbewusst« Gegensätze? Ist Selbstbewusstsein immer an eine Institution gebunden? Schließlich: Welchen epistemischen Rang hat die Aussage, dass man »erwarten könnte«, dass sich die an sich nicht, vielleicht aber dann doch sichtbar werden könnende individualisierte Religion an kirchliche Formen anschließt?
Eine begriffsklare positionelle ekklesiologische Diskussion findet nicht statt. Dennoch kann das Buch allen Praktikern und Praktischen Theologen empfohlen werden, weil seine Thesen steil genug und hinreichend provokant sind, um Diskussionen über den zukünftigen Weg der Gemeinden und der Kirchen zu befeuern.