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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

271-273

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kleinert, Ulfrid

Titel/Untertitel:

Göttliches ins Leben lassen. Diakoniewissenschaftliche Beiträge.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2014. 352 S. = Diakonik, 11. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-12694-8.

Rezensent:

Thomas Zippert

Dieser Band ist eine von Ulfrid Kleinert selbst zusammengestellte »Sammlung ausgewählter Beiträge meines Forschens und Lehrens als Diakoniewissenschaftler aus vier Jahrzehnten« (3), die nun acht Jahre nach seiner Emeritierung quasi als Summe seines Lebenswerkes mit (fast) allen seinen – auch den praktischen! – Dimensionen erscheinen; »fast« deshalb, weil die kirchen- und hochschulpolitische Wirksamkeit als Gründungsrektor der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden leider nicht dokumentiert ist.
Natürlich können die 23 Texte plus persönlichem Vor- und doxologischem Nachwort hier nur summarisch und aspektweise gewürdigt werden. Sie stehen unter dem Vorzeichen »Göttliches ins Leben lassen« und heben damit auf einen der diakonischen Grundtexte (Mt 25) ab, der freilich charakteristisch abgewandelt wird. Subjekte sind zwei: Wie Gott sich auf diese und jene Weise stark und deutlich, vor allem aber in den Armen bzw. »im Hauch verschwebenden Schweigens« (Buber in 1Kön 19,12b) verbergend offenbart bzw. offenbarend verbirgt, soll »nicht von einer missverständlichen Überwältigung mitschwing(t)[en]«, so soll auch Raum für die Arbeit des menschliches Subjektes sein, das diese Erfahrungen in sein Leben einlassen kann.
Im Band wird diese Grundierung im ersten Teil durch eine vieldimensionale Auslegung des Gleichnisses vom Weltgericht vertieft und in zwei Predigten konkretisiert; der zweite Teil setzt dies systematisch-theologisch fort in Ausführungen zum Menschenwürde-Begriff des Grundgesetzes im Dialog mit dem Dekalog (aber nicht mit neueren Theorien der Gerechtigkeit). Nach ebenfalls am Dekalog und Mk 7 orientierten Ausführungen zum Thema Zeit (nicht die Arbeit soll Herr der Zeit sein!) folgt ein in Wladiwostok und Dresden 1994 gehaltener Vortrag zum Verhältnis von Barmherzigkeit/Erbarmen und Recht (Ersteres als Grundlage des Letzteren), dessen interessante Diskussionen mit beiden Hörendengruppen dokumentiert ist. Weiter zugespitzt sind die Thesen in einem Vortrag vor der Landessynode Thüringens 2006. Für mich sind vor allem lesenswert die erfahrungsgesättigten und originellen Ausführungen zum Thema Schuld und Vergebung, die K.s theoretische und praktische Verankerung in der Straffälligenhilfe seit seiner Dissertation von 1972 (»Strafvollzug – Analysen und Alternativen« [Reihe Gesellschaft und Theologie, Abt. Praxis der Kirche, Bd. 10], München/Mainz) belegen und schon vor dem Mittelteil des Bandes die interdisziplinäre Verbindung theologischer und sozialarbeitswissenschaftlicher Theorie dokumentieren. Die Praxis zeigt oft genug anders, als flache christliche Theorie und Praxis behaupten, die »Un-Möglichkeit der Vergebung« (76 ff.), die nach Wegbereitung bestenfalls unverfügbar ge­schieht, aber so oder so Narben hinterlässt.
Der interdisziplinäre Mittelteil des Bandes widmet sich den Schnittstellen von »Soziale[r] Arbeit, Diakonie und Kirche«. Mehr noch als der sehr knappe geschichtlich-systematische Überblick über Soziale Arbeit, ihre Wissenschaftlichkeit und ihre spezifische Professionalität (TRE-Artikel »Soziale Arbeit«) zeigt ein zusammen mit Hans Gängler in der Neuen Praxis 2011 erschienener Artikel, wie ein kritisch-konstruktiver, auf vertiefter Kenntnis sozialarbeitswissenschaftlicher Theoriebildung beruhender Dialog funktioniert. Mit geradezu kühnem Zugriff zeigt er zunächst die Aufspaltung der Sozialarbeitswissenschaft in vier Fachschwerpunkte und dann in getrennte Diskurse auf – a) Arten der Hilfe (Dienstleis­tungen/Arbeitsfelder), b) Methoden sozialer Arbeit, c) Bedingungen und Ziele sozialer Arbeit (Sozialpolitik/Ethik), d) Anwaltschaft lichkeit vs. Kontrollauftrag, dann auch Wege, sie mit Hilfe der älteren theologisch-diakonischen Begrifflichkeit (»Hilfe«, »Barmherzigkeit«, konstitutive Rolle von Ethik) wieder in ihren sachlichen und für das praktische Handeln notwendigen Zusammenhang zu stellen (134 ff.). Andere Texte behandeln den Zusammenhang diakonischer und sozialer Arbeit im Bereich der Justiz, der offenen Jugendarbeit, der kreiskirchlichen bzw. gemeindlichen Diakonie, um sich dann quer dazu liegend Fragen des beruflichen Selbstverständnisses und des Weges dorthin in Aus- und Fortbildung zu widmen.
Hier hätte sich der Rezensent freilich eine klarere Haltung zum Diakonat gewünscht: Auf der einen Seite begründet H. in einer profunden Interpretation des Wichernschen Monbijou-Gutachtens zum Diakonat (186–210, besonders 205 ff.) die Aufträge (sc. »Mandate«) von Diakonen ebenso klar, wie er deren Berufswirklichkeit in einer Kurzfassung der Ergebnisse seiner umfassenden Befragung von Diakonen und Diakoninnen des Rauhen Hauses in Augenschein nimmt (hier 242–256, vgl. »Sozialarbeit gehört zum Glauben. Berufspraxis in der Gemeindediakonie«, Freiburg 1991; vgl. die späteren Folgeuntersuchungen von R. Merz und die Veröffentlichungen zum württembergischen Projekt »Diakonat – neu ge­dacht, neu gelebt«). Auf der anderen Seite bleibt er beim klassischen doppelten Mandat der Sozialarbeit stehen (klientenorientierte Befähigung zur Teilhabe/Auftrag zu Anpassung an die Gesellschaft bzw. Kontrolle, 147.176 f.) bzw. übergeht bei kirchlich-gemeindlichen Handlungsfeldern die spezifischen Zusatzmandate von Diakoninnen und Diakonen (211–217), die er im Kontext von Ausbildungsfragen immerhin noch nennt (257–267). Inzwischen geht man je nach soziologischer oder professionstheoretischer Grundierung von drei bis sechs einander widersprechenden Mandaten aus, die Diakoninnen und Diakone in ihrer Professionalität miteinander abgleichen müssen.
Zwei Texte zeigen zielsichere Eingriff in die Kirchenpolitik: Der eine analysiert die konträren Positionen im Streit um das Kernkraftwerk in Brokdorf, in dem H. selbst klar Position bezogen hatte (268–281); der andere mahnt – wohl hochwirksam – im Vorfeld des Leuchtfeuerpapiers der EKD an, die diakonische Dimension von Kirche nicht unterzubelichten.
In der Summe wird deutlich, was die Aufgabe von Diakoniewissenschaft ist: Alle theologischen Disziplinen (Bibel, Geschichte, Systematik, Ethik, Praxis christlicher Ämter/Berufe) sind auf ihre diakonischen Dimensionen prüfen, um diese dann mit den ihrerseits sich ausdifferenzierenden Rechts-, Sozial- und Pflegewissenschaften in Diskussionen um gelingendes Leben unter erschwerten Bedingungen von Ausschluss/Einschluss, Armut, Benachteiligung usw. zu bringen – und dies mit dauerndem Seitenblick auf die gemeindliche, kirchliche und diakonische Wirklichkeit samt den immer noch oft übersehenen Selbstwahrnehmungen und -deutungen (153) aus den Wirklichkeiten dieses Lebens. Sie ist von einem Theologen allein überhaupt nicht mehr zu leisten; dazu bräuchte es ganz andere Kommunikationsstrukturen und Arbeitsteilungen sowohl in der Diakoniewissenschaft als auch mit der meist auf sich selbst oder das Pfarramt zentrierten Universitätstheologie. K. zeigt mit seiner Textsammlung in fachlich beeindruckender Weise, wie weit man diese Diskussions- und Syntheseleistung treiben kann – natürlich mit individuellen Schwerpunkten und Perspektivierungen, auch Nichtwahrnehmungen von eigentlich für ihn zentralen Diskursen (z. B. über das Diakonenamt). Dennoch zeigen sich nach dem Gang durch den Horizont dieses beruflichen Lebenswerkes Konturen, wie »in, mit und unter« (Abendmahlsliturgie!) der fachlichen Wirklichkeit sozialer (und pflegerischer) Arbeit Göttliches im Leben aufscheint oder aufscheinen könnte und wie Diakoniewissenschaft aussehen müsste: Unter diesen Umständen fallen die zahlreichen Druck- und Satzfehler nicht mehr wirklich ins Ge­wicht. Im vierten Teil wird in der Auseinandersetzung mit Paulus, Elisabeth von Thüringen und Nikolaus von Myra am ehesten sein Umriss diakonischer Theologie erkennbar.