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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

265-267

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Harms, Silke

Titel/Untertitel:

Glauben üben. Grundlinien einer evangelischen Theologie der geistlichen Übung und ihre praktische Entfaltung am Beispiel der »Exerzitien im Alltag«.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 288 S. m. 4 Abb. u. 2 Tab. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 67. Kart. EUR 55,00. ISBN 978-3-525-57016-6.

Rezensent:

Thomas Klie

Gibt es evangelischen Glauben ohne evangelische Religionspraxis? Vermittelt sich protestantische Gewissheitskommunikation auch jenseits protestantischen Verhaltens? Pointiert: Können Inhalte ohne Form angeeignet werden? Der kritische Blick in die real exis­tierende Gemeindepädagogik legt es nahe, diese Frage (empirisch) positiv zu beantworten. Das ethisch ausgelegte und stark vernunftorientierte Kirchentum evangelischer Prägung wusste bis vor Kurzem nur wenig anzufangen mit einem nicht-gottesdienstlich ausgelegten liturgischen Formenspiel im Dienste eines Aufbaus individueller Frömmigkeit. Die auf Dauer angelegte Wiederholung von immer Gleichem ist Evangelischen religiös eher sus­pekt. Weil aber eine solche Praxis in populärer Gestalt derzeit auch in spätmoderne Lebenslagen hineinragt (z. B. fasten, pilgern, meditieren) und sie dort zwar durchaus auf Resonanz, nicht aber auf religionskulturelle Wissensbestände stößt, entlehnt man die entsprechende Nomenklatur der säkularen Umwelt. »Spiritualität« firmiert derzeit als umfassender Containerbegriff einer neu-religiösen Praxis in Kirche und Gesellschaft. Als Reflexionsbegriff verunklart er allerdings mehr, als er zu klären vermag.
Die vorliegende Zürcher Dissertation von Silke Harms schafft diesbezüglich nicht nur wohltuende terminologische Klarheit, indem sie die Lehre von der geistlichen Übung – die Aszetik – theoretisch aufwertet. Sie mündet in ihren Kernthesen auch in ein engagiertes Plädoyer für die Wahrung bzw. Wiedergewinnung evangelisch ausgelegter Leibesübungen. Am Beispiel des Kursmodells »Exerzitien im Alltag« (zeitlich begrenzte Kursangebote, die vor allem von Kirchgemeinden angeboten werden) weist sie überzeugend nach, dass die Vermittlung von Glaubensinhalten notwendig einer konstanten Einübung in christliche Glaubensvollzüge bedarf. Da aber religiöse Übungsszenarien immer schon unter dem »protestantischen Generalverdacht der Werkgerechtigkeit« (11) stehen, gerät das Anliegen einer liberalen Aszetik zu einem ebenso strittigen wie theologisch ambitionierten Unternehmen, zumal sich das hier protegierte Übungsensemble mit dem Namen Ignatius von Loyola verbindet. Die in dieser Monographie diskutierten Exerzitien im Alltag-Kurse gelten in der ignatianischen Tradition allerdings nur als »leichte« bzw. »offene« Kurse, nicht zuletzt finden sie auch darum in evangelischen Gemeinden regen Zuspruch. Wie so oft im kirchlichen Leben hat hier die vitale Praxis einen gehörigen Vorlauf vor der ihr nachdenkenden Theorie. Dieses augenscheinliche Theorie-Praxis-Gefälle hebt H. zu guten Teilen auf. Dies geschieht in drei Anläufen.
In einem ersten Teil (73 S.) rekonstruiert H. in historischer Reihenfolge die Rezeptionsgeschichte der evangelischen Aszetik (häusliche Praxis, außeralltägliche Orte, katholische Quellen, Berneuchen, Retraite-/Retreatarbeit). Die drei systematischen Brennpunkte werden hierbei immer mitgeführt: »Übung« – »Alltag« – »Laie«. Vermisst wird in diesem Zusammenhang allerdings eine kulturhermeneutische Reflexion auf Rezeptionsbedingungen religiöser Angebote, die die Wellness-Schwelle überschreiten. Wie religionsoffen und -fähig gestaltet sich derzeit die interessierte Öffentlichkeit, auf die solche verbindlichen Angebote stoßen?
Das zweite Kapitel (127 S.) steht ganz im Zeichen einer »aszetischen Relecture zweier Großprotestanten«: Luther und Schleiermacher. Die Ausgangsthese hierfür: »Ohne die regelmäßige individuelle und gemeinschaftliche geistliche Übung hätte nicht nur ihre Theologie, sondern auch ihr Wirken als Lehrer und Geistliche niemals die Tiefe und Bedeutung erreicht, die sie im Laufe der Jahrhunderte erzielte.« (13) Luther ist in dieser Hinsicht als einer der Kronzeugen für die geistliche Übung durchaus erwartbar. Weniger erwartbar ist jedoch der aszetische Akzent gerade auf den Katechismen, ein allmählich ins kollektive religionsdidaktische Vergessen fallendes Doppellehrwerk. Hier hebt H. mit Recht den kommu-nikativen Charakter lutherischer Übungen hervor, die sie differ-enziert nach »Kenntniserwerb«, »existenzieller Aneignung«, »zielgruppenorientierter Vertiefung« und »Ausübung« (93–99).
Der Rekurs auf Schleiermacher erstaunt schon sehr, denn ge­genwärtig wird sein liberales Programm zwar stark rezipiert, dabei aber seine herrnhutische Frömmigkeitspraxis kaum je be­rücksichtigt. Hier zeigt sich u. a. wieder, wie sehr der den Theo-logen weithin unbekannte Pädagoge Schleiermacher (den Päda-gogen ist der Theologe Schleiermacher weithin unbekannt) den Übungsaspekt hervorhebt. Für ihn »ist Übung als reinigendes Han­deln nicht nur eine ›Nothwendigkeit‹, denn durch sie wird die Herrschaft des göttlichen Geistes im Menschen vergrößert« (145). Als Lernorte werden reflektiert: die Familie, die Schule, der kirch-liche Religionsunterricht sowie die gemeindlichen Übungen »Predigt«, »Gesang« und »Gebet« (146–161). Hier gewinnt die religiöse Praxis darstellende Kraft als »spielerische Übung oder übendes Spiel« (207).
Im abschließenden, leider etwas knapp geratenen dritten Ab­schnitt werden auf 47 Seiten die »Grundlinien einer evangelischen Aszetik« ausgezogen. Sehr schön werden hierbei die Spannungsfelder benannt und einander zugeordnet: »Individualität und Sozialität«, »Aktivität und Passivität«, »Alltag und besondere Zeiten und Orte« (218–228). Es verwundert nicht, wenn die Arbeit mit einem »Plädoyer« für eine evangelische Adaption ignatianischer Exerzitien im Alltag schließt: »Ziel solcher Exerzitien wäre eine dauerhafte Integration der individuellen und gemeinsamen geistlichen Übung in eine alltägliche Praxis der Laien in der evangelischen Kirche.« (264)
Der Theoriezugriff ist durchgehend unprätentiös, die Darstellung ist auch für nicht theologisch Gebildete sehr gut lesbar. Grafiken und Tabellen geben sinnvolle Zusammenfassungen. Diese solide und akribisch gearbeitete Untersuchung sei allen empfohlen, die in den Kirchen der Reformation inflationär von »Spiritualität« reden, aber kaum wissen, wovon hier evangelisch die Rede sein könnte.