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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

262-265

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Abendmahl feiern in Geschichte, Ge­genwart und Zukunft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 270 S. m. Abb. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04166-4.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Der Münsteraner Praktische Theologe und ehemalige Vorsitzende der Liturgischen Konferenz Christian Grethlein hat ein engagiertes, impulsreiches und streitbares Buch zum Abendmahl geschrieben. Die These lautet: Es muss so ziemlich alles anders werden, denn die kirchliche Abendmahlspraxis – diese Einschätzung be­zieht sich auf die evangelische wie auf die katholische Kirche – folgt einer binnenkirchlichen, auf die konfessionelle und traditionelle Dogmatik bezogenen Logik und hat den Kontakt zu der Mehrheit der Menschen, damit auch zu der überwältigenden Mehrheit der Kirchenmitglieder, verloren. Ebenso vernichtend wie dieses empirische Urteil ist das biblisch-theologische: Die gegenwärtige Abendmahlspraxis hat sich nach G. von der Lebenspraxis Jesu vollkommen entfernt und ist damit ohne biblische Begründung. Aus dem diakonischen, menschliche Grenzen und Armut überwindenden Mahl der Gemeinschaft bei Jesus, so G., ist im Laufe der Kirchengeschichte ein individuelles Essen geworden, das sich statt um die Sättigung um das kultische Opfer (katholisch) bzw. um die individuelle Sündenvergebung (evangelisch) dreht. Aus dem Freudenmahl entwickelte sich der Kult, aus radikaler Inklusion kirchliche Exklusion und aus pluriformen Mahlzeiten eine dogmatisch verordnete Einheitsliturgie. Unmittelbar aus dieser kritischen Analyse ergeben sich auch die Handlungsanweisungen: Die Chris-tenheit sollte den Weg zurück finden hin zu verschiedenen sättigenden, diakonischen, inklusiv gemeinschaftsbezogenen Mahlformen und sich verabschieden von ihrer binnenkirchlichen, sich konfessionell abgrenzenden Selbstbezüglichkeit. Die Geschichte hat zu der verfehlten Praxis geführt, unter der die Menschen der Gegenwart leiden, und die Zukunft muss durch mutige Reformen gewonnen werden. Damit folgt das Buch einer klassischen reformatorischen Argumentation: zurück zu den biblischen Anfängen, weg von den historisch gewachsenen Missständen – aber das Buch folgt nicht der reformatorischen Tradition (mit der Konzentration auf verba testamenti und individuelle Sündenvergebung). Die Konfrontation der Thesen G.s mit der kirchlichen Praxis ist demnach enorm, wie er selbst im Vorwort anmerkt (7).
Im ersten Teil des Buches wird die historische Entwicklung »von der offenen Mahlzeit zum kirchlichen Ritual« nachgezeichnet (21–106). Schon in den ersten drei Jahrhunderten verlief die Entwicklung »von Jesu inklusiven Mahlzeiten zur kultischen Mahlfeier der Kirche« (24). Eine historisch kohärente Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart ist damit nach G. eine Illusion und organologisch-traditionskontinuierliche Sichtweisen sind von daher zu­rückzuweisen (24). Allein schon die Begrenzung der Mahlfeiern auf die Verwendung von Brot und Wein wird unter Berufung auf Brot und Fisch in den Speisungsgeschichten sowie in Joh 21 kritisiert (26). Aufgrund der Erinnerung an die vielfachen Mahlzeiten des irdischen und des auferstandenen Jesus wird konstatiert, dass eine Mahlpraxis, »die sich exklusiv auf Jesu Abschiedsmahl – und hier eventuell nur auf die matthäische Deutung der Sündenvergebung« beziehe, den inhaltlichen Reichtum des Neuen Testaments »verfehlt« (34). Das offene Mahl Jesu »für sozial, religiös und kultisch Segregierte« wurde bis zum Jahr 300 »zu einem in die antike Religionskultur eingefügten Ritual der Gruppenidentität«.
Historisch-hermeneutisch ist hier m. E. zu fragen, ob es sich bei dieser – im Wesentlichen zutreffend beschriebenen – Entwicklung um eine ambivalente (bzw. notwendige) oder um eine reine Fehlentwicklung handelte, wie dies G.s negative Teleologie nahelegt. Doch abgesehen davon, dass wir von der Wirklichkeit des christlichen Gottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten sehr wenig wissen und auf Vermutungen aufgrund weniger Schriften wie der Apologie Justins und der Traditio Apostolica angewiesen sind, wird man doch konstatieren müssen, dass die »kultische« Entwicklung der ersten Jahrhunderte offensichtlich den lebenspraktischen In­teressen der Menschen entsprach und ungemein erfolgreich im individuellen wie im apologetischen und sozialpsychologischen Sinne war. Die Botschaft Jesu überlebte aufgrund ihrer diakonischen und ihrer auf die kirchliche »Gruppenidentität« bezogenen Konturierung durch die frühe Kirche. Analoges wird man wohl auch im Hinblick auf die verstärkte Bedeutung des priesterlichen Handelns (48) sagen können, denn komplexere Gemeinschaftsformen sind auf Professionalisierungsschübe angewiesen. Gewiss zustimmen wird man G.s Analyse im Hinblick auf das Hochmittelalter, »dass nur noch ein liturgiegeschichtlich geschulter Blick einen Zusammenhang dieser mittelalterlichen Klerikerliturgie mit den Mählern entdecken kann, die die frühen Christen feierten« (63, dort kursiv). Das Messopfer diente nach G. vor allem »dem Erhalt der priesterlichen Versorgung«, also der Sicherung »des Kultbetriebs« und weniger der Hilfe für Arme (71). Damit ist der Kern der reformatorischen Kritik erreicht; doch das Reformationsjahrhundert erbrachte nach G. durch das Gebundensein an die mittelalterlichen Fragen, durch die Fixierung auf die Sündenvergebung und die »Elemente« des Mahls gerade keinen Fortschritt, sondern legte den Grund für die gegenwärtige »Erstarrung« des evangelisch-katholischen Gesprächs (97). Hier wird man den vorgetragenen Gegenwartsanalysen rundum Recht geben müssen.
Im zweiten Teil wird die Pluriformität kirchlicher Mahlfeiern in der Gegenwart »zwischen Tradition und Aufbrüchen« beschrieben (107–205). Hier geht es G. vor allem um alternative Feiermodelle wie das bekannte Feierabendmahl oder gemeinschaftsorientierte Mahlformen in der Konfirmandenarbeit, aber auch um die »fresh expressions«, um alternative Gemeindeformen in der Church of England außerhalb der parochialen Struktur (172 ff.) und um die für Obdachlose und Arme geöffneten »Vesperkirchen« (z. B. in der Leonhardskirche Stuttgart-Mitte) bzw. um die diakonischen »Charity Dinners« (199 ff.). In diesen Mahl- und Feierformen sind Alternativen zu traditionell kirchlichen und zu individuell-soteriolo-gischen Deutungen gegeben, die die Wahrnehmung diakonischer Verantwortung erkennen lassen. Dazu werden von G. zu­nächst gegenwärtige Veränderungen der Essgewohnheiten skizziert (109–124): Weg vom Fast Food, hin zu ausgewogener und preisgünstiger Ernährung sowie Bezüge zu Gesundheit und Lifestyle sind Tendenzen. Empirische Ergebnisse zu den Abendmahlsgewohnheiten zeigen einen Anstieg der Zahl der Feiern zwischen 1978 und 1994 um ein Viertel bei gleichzeitiger Vereinheitlichung der Feierformen: Immer mehr wird das Mahl nur im Kirchraum gefeiert (Hausabendmahlsfeiern sind in den zurückliegenden Jahrzehnten immer weniger geworden). Theologisch ist nach G. in der Praxis und in kirchenleitenden Dokumenten der Bezug auf das letzte Mahl Jesu entscheidend, während die Mahlzeiten des irdischen und des auferstandenen Jesus darin fast keine Rolle spielen. Insgesamt wird von G. eine Tendenz zur Verkirchlichung, Verrechtlichung und Uniformierung festgestellt. In diesem zweiten Teil wird so die bereits beschriebene Gesamtthese G.s empirisch herausgearbeitet.
Im dritten Teil »Mahl feiern in der Zukunft – Einheit im Herrn und Vielfalt im Feiern« (207–254) wird Bilanz gezogen und die schon zuvor erkennbaren Konsequenzen für zukünftiges kirchliches Handeln werden zusammenfassend benannt. Festgestellt wird zunächst, dass das Abendmahl in der kirchentheoretischen Diskussion der Gegenwart de facto keine Rolle spielt (209). Dann wird die Hauptthese formuliert: »Wenn man Abendmahl-Feiern am Sonntagmorgen betrachtet, überlagert die kultische Dimension die diakonische vollständig. Es wird eine wichtige Aufgabe sein, die Feiergestalt entsprechend zu verändern, damit die diakonische Sinngestalt des Mahlfeierns (wieder) erfahrbar wird.« (219) Gewarnt wird immer wieder vor einem übersteigerten pastoralen Amtsverständnis – gerade auch die Überlegungen zur »liturgischen Präsenz« können nach G. in die falsche Richtung führen, indem sie die Rolle des Liturgen als »Gastgeber« der Mahlfeier unterstreichen und damit das ursprünglich Egalitäre der Gemeinschaft aufheben (230). In Zukunft sollten nach G. pluriforme Mahlfeiern gestaltet werden, die ihre theologische Einheit im Segen, in der Anamnese des Lebens und Geschickes Jesu und in der Bitte um den heiligen Geist (Epiklese) haben (239).
G. hat ein kirchenkritisches Buch geschrieben, das hoffentlich zu einer vielfältigen Diskussion um das Abendmahl führt. Denn dass dieses zu einem Spezialgebiet für Liturgiewissenschaftler und ökumenische Dialogiker geworden ist und die Mehrzahl der Kirchenmitglieder weder praktisch noch spirituell irgendwie berührt, ist ein Umstand, der weder empirisch bestritten noch religiös toleriert werden kann. Da sich die evangelische Kirche glücklicherweise von der irrigen Meinung entfernt hat, nicht ihre Praxis müsse sich auf die Menschen zubewegen, sondern die Menschen müssten sich ändern und wieder kirchlicher werden, darum ist G.s Konsequenz unbestreitbar: Die Kirche muss über die Zukunftsfähigkeit ihrer Mahlpraxis nachdenken.
Bedenken gegenüber den Thesen G.s möchte ich allerdings in drei Punkten anmelden. Zum einen hat das Buch eine reform-euphorische Schlagseite. Vieles, was an speziellen Formen gewiss an besonderen Stellen angemessen ist, sollte weiter entwickelt werden, aber dabei nicht die Plausibilität der eingebürgerten Formen für eine große Anzahl von Kirchenmitgliedern gefährden. Zudem liegt nicht alles an der neuen Form. Das Vertrauen auch in die traditionellen Rituale wächst mit der Nähe zum Gottesdienst generell, mit der Nähe zu den kirchlichen Mitarbeitern – und nicht zuletzt mit der Nähe zu den Pfarrerinnen und Pfarrern, die in der Schlüsselrolle sind und bleiben, wenn es gilt, Vertrauen in die Relevanz und Menschenfreundlichkeit der Liturgie zu entwickeln. Zweitens überzeugt mich das Kriterium der Sättigung als entscheidendes nicht, denn es handelt sich bei einem religiösen Mahl im­mer um eine Zeichenhandlung, bei der nicht bestimmte Signifikanten, sondern die religiöse Pragmatik entscheidend ist. Dass die diakonische bzw. die real sättigende Funktion wichtig ist, um den Sinn des heiligen Essens (neu) erfahrbar zu machen, soll damit nicht bestritten, sondern im Gegenteil mit G. unterstrichen werden. Drittens fällt auf, dass G. bemüht ist, die Beschränkung der theologischen Bedeutung des Abendmahls auf das letzte Mahl Jesu mit den Seinen zu überwinden zugunsten der Deutungen auch vom Leben des irdischen Jesus und von den Begegnungen mit dem Auferstandenen her. Dabei darf aber das Passionskerygma nicht verloren gehen, das bekanntermaßen der Kern der gesamten neutestamentlichen Überlieferung ist. In G.s Thesen spielen Leiden und Kreuz Jesu zugunsten von Diakonie und Sättigung, Gemeinschaft und Inklusion so gut wie keine Rolle. Das mag dem Insistieren auf den Reformimpulsen geschuldet, kann aber keinesfalls umfassend so gemeint sein.
Dem Buch ist zu wünschen, dass es die Auseinandersetzung, die es stiften möchte, auch findet und dass das Abendmahl so von einem theologischen specialissimum zu einem kirchlichen Zentralthema wird. Den von Finanz- und Optimierungsdebatten ermüdeten evangelischen Gemeinden wird das gewiss gut tun.