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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

232-234

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Raatz, Georg

Titel/Untertitel:

Aufklärung als Selbstdeutung. Eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings »Bestimmung des Menschen« (1748).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. X, 541 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 173. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-153291-7.

Rezensent:

Ulrich Dreesman

Gerade einmal 26 Seiten ist die Schrift stark, die den Ruhm des späteren Berliner Oberkonsistorialrats und Propstes Johann Joachim Spalding (1714–1804) begründet: die 1748 in Greifswald erstmals erschienene »Bestimmung des Menschen«. Spaldings Büchlein hat es in sich. Elegant und eingängig im Stil, ist sein Gedankengang ebenso voraussetzungsvoll wie implikationsreich. Die Wirkung der Schrift schließlich ist kaum anders als fulminant zu nennen. An der von Spalding lancierten Frage nach der humanen Bestimmung entzünden sich in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s zahlreiche Debatten (vgl. L. A. Macor: Die Bestimmung des Menschen [1748–1800]. Eine Begriffsgeschichte [FMDA II,25], Stuttgart-Bad Cannstatt 2013). Die »Bestimmung des Menschen«, die Spalding mehrfach überarbeitet und 1794 zum elften und letzten Mal publiziert, gilt als »Programmschrift der zweiten Phase der deutschen Aufklärung« (R. Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007, 61), hat sie den Diskurs in Theologie, Philosophie und Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s doch maßgeblich geprägt.
Die Bestimmungsschrift ist in den letzten Jahren verschiedentlich interpretiert und in ihrer Bedeutung gewürdigt worden. Die Spalding-Forschung kann dafür inzwischen auf eine abgeschlossene Edition seiner Schriften zurückgreifen (Kritische Ausgabe [= SpKA], hrsg. v. A. Beutel, Tübingen 2001 ff.). Die 2014 erschienene Dissertation von Georg Raatz nimmt die vorangegangenen Bemühungen um Spaldings Meisterwerk kritisch und produktiv auf und bietet auf 495 Seiten eine Maßstäbe setzende genetisch-systematische Rekonstruktion der Bestimmungsschrift – eben in ihrer ersten, 26 Seiten starken Fassung von 1748.
Die Studie setzt mit »Prolegomena« (1–62) ein, die u. a. einen instruktiven Forschungsbericht bieten (9–53). Das Anliegen, das R. mit seiner Studie verfolgt, ist ein doppeltes: »Zum einen soll die Bestimmungsschrift genetisch-rekonstruktiv vor dem Hintergrund der biographisch-bildungsgeschichtlichen Entwicklung Spaldings […] untersucht werden.« (53) Zum anderen fokussiert die Darstellung durchgehend (und im Schlusskapitel noch einmal gesondert) jene Begriffe, die »Relevanz für eine moderne Religions- und Christentumskultur« (ebd.) beanspruchen können; genannt werden u. a. der Bestimmungs-, Glücks- und Empfindungsbegriff, der Begriff der Würde des Menschen und der Religionsbegriff. Insofern kann man von einer historischen Studie in systematischer und modernitätstheoretischer Absicht sprechen.
Die Kapitel I bis III rekonstruieren den Bildungsgang Spaldings, wie er sich in den vor der Bestimmungsschrift erschienenen Publikationen niederschlägt. Kapitel I (»Frühe Prägungen und erste Publikationen«, 63–103) bietet eine akribische Analyse der formal sehr unterschiedlichen kleineren, zwischen 1731 und 1745 erschienenen Texte Spaldings und eröffnet Einblicke in einen faszinierend vielschichtigen Denkweg, der die Leitideen der Bestimmungsschrift bereits erkennen lässt.
Dies gilt umso mehr für Spaldings Shaftesbury-Übersetzungen von 1745 und 1747, die in Kapitel II (»Spaldings Shaftesburyrezeption«, 104–222) zum ersten Mal überhaupt eingehend untersucht werden. Im Anschluss an die Einordnung in ihren entstehungsgeschichtlichen Kontext (analysiert wird u. a. Spaldings Beschäftigung mit der Ästhetik und Poetologie J. Ch. Gottscheds und A. G. Baumgartens) steht die Programmatik des Übersetzungsvorhabens zur Debatte. Dafür bezieht sich R. auf die Vorreden der Übersetzungen, die er (anders als SpKA) beide Spalding zuschreibt (180f.). Eine besondere Leistung besteht in der Analyse der Übersetzungen im Blick auf die für die Bestimmungsschrift bedeutsamen Begriffsfelder »Empfindung, Gefühl, Geschmack« einerseits und »Bestimmung« andererseits. Was bei Shaftesbury »sense« heißt, wird bei Spalding zur »Empfindung«; »Bestimmung« da-gegen bezeichnet für den Übersetzer Spalding primär die (teleo-logische) Bestimmung zu etwas und avanciert zu einer Kategorie, in deren Horizont die Lehrstücke von der göttlichen Providenz und der Prädestination anthropologisch reformuliert werden können.
Kapitel III (»Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes als Signatur der poetologisch-ästhetischen Debatten vor 1750«, 223–268) zeigt, dass der Übersetzer Spalding Shaftesbury (und insbesondere dessen moralphilosophische Zentralidee des »moral Sense«) im Horizont der zeitgenössischen deutschen Debattenlage deutet. »Spalding las Shaftesbury durch die Brille Wolffs, Gottscheds, Baumgartens und Meiers.« (268) Es ist also keineswegs so, dass der Wolffianer Spalding im Zuge seiner Übersetzungstätigkeit zum Shaftesburyaner geworden wäre. Die Übergänge sind fließend, wie R. überzeugend darlegt.
Während die Kapitel I bis III genetisch-rekonstruktiv angelegt sind, lassen sich die beiden folgenden Kapitel im Feld der systematischen Rekonstruktion verorten. Kapitel IV präsentiert »Shaftesburys ›Bestimmung des Menschen‹« (269–334) und kann mit dieser Fragestellung durchaus als eigenständiger Beitrag zur Shaftesbury-Forschung gelten. Es bildet zugleich die Folie für die folgende eingehende Analyse der Bestimmungsschrift (»Spaldings Bestimmung des Menschen«, 335–433). Im Gespräch mit der inzwischen zahlreich erschienenen Literatur gelingt es R., neue, weiterführende Akzente zu setzen. Unterabschnitt 9 fasst die Ergebnisse unter Rückbezug auf die Kapitel I bis IV zusammen und ist als Resümee zu lesen (417–433). Es zeigt sich erneut, dass sich Spalding, wiewohl stark von Shaftesbury geprägt, Einsichten und Überzeugungen, die sich der Beschäftigung mit Ch. Wolff und seiner Schule verdanken, bewahrt hat.
Die genetisch-systematische Rekonstruktion der Bestimmungs­schrift ist damit abgeschlossen. Deren Ertrag für die Theologie der Gegenwart steht im Abschlusskapitel VI zur Debatte (»Systematische Anschlussüberlegungen«, 434–495). R. geht es darum, »Spaldings Bestimmungskonzept in den Horizont gegenwärtiger Reflexionsarbeit an einer modernen und aufgeklärten Gestalt protestantischer Theologie zu stellen.« (434) Dabei zeigt sich die erstaunliche Anschlussfähigkeit der vor über 250 Jahren erstmals erschienenen Schrift. Um nur drei von R. namhaft gemachte Aspekte zu nennen: Als Dokument mündiger Selbstaufklärung bzw. Selbstdeutung bringt die »Bestimmung des Menschen« ein Strukturmoment mo­derner »Bildungsreligion« (442) plausibel zur Darstellung. Für eine Wiedergewinnung der Glücksthematik in der evangelischen Theologie kann die Bestimmungsschrift ebenso Anregungen geben wie im Blick auf eine protestantische »Anthropologie der Menschenwürde« (469).
R.s Arbeit besticht durch ihren stets souveränen Zugriff auf die Materie. Die Argumentation ist jederzeit stringent und zielgerichtet. Hilfreich sind die Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels. Wer die Arbeit studiert, wird reich belohnt – möglicherweise auch im Blick auf die eigene Selbstdeutung.