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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

107-108

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wesche, Tilo

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Werturteil. Eine Theorie der praktischen Rationalität.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIV, 384 S. = Philosophische Untersuchungen, 27. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150879-0.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Die vorliegende Schrift – eine überarbeitete philosophische Habilitationsschrift von Tilo Wesche – verfolgt das Anliegen, ethische Urteilsfindungen bzw. Werturteile im Horizont von »Wahrheit« zu interpretieren. Sie ist differenziert und sehr sorgfältig ausgearbeitet. Kleine Versehen finden sich nur äußerst selten (z. B. muss es auf S. 297 statt »Organtod« wohl »Hirntod« heißen). So umfassend, argumentativ und gehaltvoll das Buch angelegt ist, hat das Ergebnis den Rezensenten letztlich allerdings nicht überzeugt.
Insgesamt geht das Buch vor allem dem Wahrheits- und weniger dem Wert- oder Werturteilsbegriff nach. In Kapitel I befasst es sich damit, was »Wahrheit in der Ethik« besagen soll, und bringt dies auf folgenden Nenner: »Moralische Wahrheit heißt, dass einem Ziel in einer bestimmten Situation ein handlungsleitender Wert gebührt […]« (56). Ein moralisches Urteil sei als wahr zu be­zeichnen, »wenn der Akteur in der Handlungssituation zu keinem besseren Urteil kommen kann« (80). Hiermit ist klargestellt, dass das Buch keinesfalls auf eine essentialistische oder neothomis­tisch-naturrechtliche Wahrheitstheorie oder dergleichen abzielt – ob­wohl es im Ergebnis für ethische Werturteile schließlich dann doch einen recht starken Wahrheitsanspruch postuliert. Im zweiten Kapitel geht es dem »Schein« als Gegensatz zur Wahrheit nach. Der Vf. verdeutlicht dies anhand von Zwangsvorstellungen und am Phänomen der Selbsttäuschung. Generell ist für ihn wichtig, Wahrheit und Vernunft monistisch zu verstehen. Hierdurch werde deutlich, dass der Wahrheit im Denken der Vorrang gebühre (133). Kapitel III unterscheidet sodann zwei Rationalitätsmodelle: einerseits einen sogenannten exklusiven Monismus, der seit Aris­toteles anzutreffen sei – eine moderne Variante: das Konzept von J. McDowell, das einen moderaten Naturalismus konstruiere und die Offenheit des Menschen für Vernunftgründe des Handelns als zweite Natur des Menschen ansähe (168 f.) –; andererseits einen inklusiven Monismus. Letzterem sei u. a. der Ansatz Tugendhats zu subsumieren.
Dass Selbsttäuschungen in der Moral überwindbar seien und Werturteile auf Wahrheit gründen, möchte der Vf. vor allem aber durch einen Rekurs auf Hegel und Heidegger untermauern. Gedankengänge der beiden Philosophen werden im vierten und fünften Buchkapitel umfänglich wiedergegeben. Von Hegel lasse sich lernen, dass der Vorrang von Wahrheit sowie die Ausprägung von Rationalität geschichtlich fortschreitend zutage träten und als geschichtlich wirkende und werdende »Macht« (325 f. u. ö.) zu be­greifen seien. Heidegger habe die Kontingenz und den Ereignis­-charakter von Wahrheit beleuchtet. Schattenseiten der Denkmo delle Hegels und Heideggers werden vom Vf. nicht in Abrede gestellt, z. B. die heute nicht mehr nachvollziehbare ge­schichtsphilosophisch idealistische Aufstiegsidee Hegels. An Heideggers Werk ist der Vf. auf der Grundsatzebene interessiert, so dass er nicht thematisiert, in welchem Maß konkrete moralische und politische Werturteile dieses Philosophen in ideologische Verblendung verstrickt waren. Heideggers Denken leite dazu an, nach geschichtlich und gesellschaftlich sich manifestierender Sprachpraxis zu fragen. Mithilfe von Sprache werde es möglich, dass im Gegensatz zu Selbsttäuschungen die Wahrheit zum Zuge gelange (324). Hierum geht es im abschließenden Kapitel VI, das darlegt, dass Wahrheitsorientierung bzw. wahre Werturteile durch Kunst, durch Kultur sowie im Sinn von Habermas durch Kommunikation befördert werden. Der menschliche Dialog besitze eine Dynamik und eine performative Kraft, aufgrund derer individuelle Selbsttäuschun gen aufgehoben, korrigiert und – eine vom Vf. hierfür gern verwendete Wendung – »ausgehebelt« würden (z. B. 353).
Ob Kommunikation Selbsttäuschungen tatsächlich umfassend auszuhebeln vermag, ist aber sehr unsicher. Z. B. wird an dem vom Vf. erwähnten Phänomen der Zwangsvorstellung (88 ff.) ersichtlich, dass und inwiefern Kommunikation an Grenzen stoßen kann. Doch von Einzelfragen abgesehen: Zweifellos ist für ethische Ur­teilsbildungen, die sich aus Sach- und Wertaspekten zusammensetzen, u. a. die Korrespondenztheorie der Wahrheit zu beachten (hierzu 28 ff.). Insgesamt führt das Buch den Rezensenten freilich zu der Einschätzung, dass man es lieber dabei belassen sollte, ethische Werturteile statt zu emphatisch an Wahrheit vielmehr im Licht von Nutzen, Schadensvermeidung oder Angemessenheit und an den Kategorien von gut versus schlecht, richtig versus falsch sowie komparativisch (»besser«, »vorzugswürdiger« usw.) zu be­messen. Religions- und theologiegeschichtlich spielte es eine be­trächtliche Rolle und wirkt es bis heute nach, ethische Aussagen mit einem überhöhten Wahrheitsideal zu versehen. Dies geschah (und geschieht) in bestimmten dogmatischen oder auf heilige Schriften gestützten, in naturrechtlichen oder in kirchlich-autoritativen Sichtweisen.
Das vorliegende Buch hat sich hiermit nicht weiter beschäftigt, auch nicht mit nichtreligiösen Ideologien und Verblendungszusammenhängen. Der Intention des Buches, ethische Werturteile auf rationale Standards zu stützen, ist zuzustimmen. Dem Untertitel gemäß liegt dem Buch an einer »Theorie der praktischen Rationalität«. Ob man mit dieser Theorie einen An­spruch auf »Wahr-heit« verbinden sollte, ist jedoch eine ganz andere Frage. Der Wahrheitsbegriff ist seinerseits klärungs- und definitionsbedürftig und bezogen auf alltagsweltliche ethische Konfliktfragen missverständlich. Insofern hat es seinen guten Grund, dass etwa in der Medizinethik nicht mehr wie früher emphatisch von »Wahrheit am Krankenbett« die Rede ist. Stattdessen wird nüchterner sowie begrifflich präziser von ärztlicher Information, Aufklärung und Beratung und vom informed consent des Patienten ge­sprochen. Zahlreiche ethische Werturteile müssen unter Bedingungen des Zweifels und der Uneindeutigkeit getroffen werden. Dass ethische Aussagen sowohl hinsichtlich der sie fundierenden Sachurteile als auch in normativer Hinsicht unauflösbare Unschärfen enthalten, droht verdeckt zu werden, wenn für Ethik zu einlinig ein Wahrheitsanspruch behauptet wird und wenn für dieses Wahrheitspathos und für die These der »Macht« von Wahrheit und Vernunft spekulative Theorien wie diejenigen Hegels oder Heideggers als Referenz gewählt werden. Ungeachtet dieser Skepsis bleibt zu betonen, dass das Buch sehr profund geschrieben ist und Grundlagen der Ethik intensiv reflektiert.