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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

104-106

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Jochen, u. Heiko Schulz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Irrationalität. Historisch-systematische Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XXXIV, 317 S. = Religion in Philosophy and Theology, 71. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-152250-5.

Rezensent:

Martin Wendte

Ist Religion irrational? Dies behaupten nicht nur die Kritiker der Religion, sondern auch viele ihrer Liebhaber. Die Kritiker – von den frühen Aufklärern bis zu den Neuen Atheisten um Dennett und Dawkins – meinen, dass die Religion aufgrund ihrer Irrationalität denkerisch desavouiert ist und dass in der Irrationalität der Grund für die intrinsisch mit jeder Religion verbundene Gewalt zu finden ist. Manche Liebhaber der Religion gerade im Zeitraum von 1750 bis 1950 hingegen verteidigen nicht die Rationalität der Religion, sondern sehen in ihrer Irrationalität ihre Stärke, da diese doch ein Bollwerk gegen die totalitäre moderne Vernunft bilden kann. Wenn die Irrationalität der Religion in so unterschiedlichen Funktionen auftritt, liegt es nahe, anzunehmen, dass unter diesem Be­griff ein breites semantisches Spektrum gefasst wird, das durch eine längere Entwicklungsgeschichte geprägt ist.
Diesem Spektrum wird in dem anzuzeigenden Buch nachgegangen, das von dem Frankfurter Systematiker Heiko Schulz und dem mittlerweile in Paderborn lehrenden Jochen Schmidt herausgegeben wird. Im Folgenden werden der Aufbau des Buches und die darin versammelten Beiträge kurz vorgestellt, ehe die beiden mit Abstand längsten Beiträge etwas genauer präsentiert werden.
In der ausführlichen Einleitung legen die Herausgeber einen eigenen Rationalitätsbegriff vor und konturieren im Gegenüber dazu ihr Verständnis von Irrationalität. Die Beiträge selbst sind in zwei große Kapitel geordnet: Im ersten werden »einige historisch bzw. entwicklungslogisch zentrale Naht- und Schaltstellen skizziert, die bzw. deren (explizite oder implizite, direkte oder indirekte) Rezeption in diesem Zusammenhang als paradigmatisch gelten können.« (XX) Im ersten Teil des ersten Kapitels legt Harald Steffens den vernehmenden Vernunftbegriff Johann Georg Hamanns dar; Jon Stewart rekonstruiert Hegels Kritik an Voltaires Religionskritik und Hegels Betonung, dass Religion gerade aufgrund ihrer Gehalte rational ist; und Knut Wenzel expliziert, dass laut Schelling das Absolute nur in der Ekstase des Denkens als Möglichkeitsbedingung des Denkens nicht/denkbar ist. Daniel Conways legt eine ebenso eigenständige Nietzsche-Lesart vor wie Todd Goochs eine differenzierte Rekonstruktion von Rudolf Ottos Irrationalismus des Numinosen.
Die Beiträge des zweiten Teils des ersten Kapitels sind Kierkegaard als dem »Gottvater« des modernen Insistierens auf der Irrationalität des Glaubens gewidmet und erforschen zugleich einige seiner Wirkungslinien. Zoltan Gyenge entwickelt die Irrationalismus-Debatte im Rekurs auf die Theodizeefrage und unter Rückgang auf Böhme, Schelling und Kierkegaard; Peter Sajda rekonstruiert die kritische Kierkegaard-Rezeption Adornos; Istvan Czakos bezieht Jaspers und Kierkegaard aufeinander; William McDonalds liest Kierkegaard von Foucaults Überlegungen zum Wahnsinn her und Dario Gonzales bedenkt Kierkegaards Verständnis der Genese des Glaubens und deren irrationalitätstheoretischen Implikationen.
Das zweite Kapitel legt vier systematische Beiträge zum Thema vor, beginnend mit dem gleich näher darzulegenden Aufsatz von Oliver Wiertz. Dann folgt ein kurzer, aber sehr bedenkenswerter Aufsatz von Jochen Schmidt, der den Wissenschaftsbegriff der Theologie als den eines »schwachen Irrationalismus« kennzeichnet. Im Unterschied etwa zu den Naturwissenschaften liegt Irrationalismus vor, da die Theologie »ein irrationales commitment einzugehen bereit ist« (258) – ein commitment zu einer religiösen Erfahrung, die »selbst nicht mehr zum Gegenstand einer rückhaltlosen kritischen Prüfung wird« (265). Andererseits ist dieser Irrationalismus der Theologie schwach, nicht stark, da die Theologie zugleich die »grundsätzliche Geltung der Forderungen kritischer Vernunft« (258) für ihr eigenes, im Irrationalismus gründendes Geschäft anerkennt. Heiko Schulz analysiert sodann sehr präzise grundlegende Paradoxien des Glaubens, ohne dass daraus die intrinsische Irrationalität des Glaubens folgern würde, und Gesche Linde widerlegt den von Daniel Dennett formulierten Irrationalismus-Vorwurf gegen die Religion, indem sie differenziert und überzeugend den Rationalismus-Begriff von Peirce entwickelt, der nicht nur zahlreiche Verkürzungen und Selbstwidersprüche im Rationalitätsbegriff Dennetts aufhebt, sondern zugleich der Religion einen angemessenen Platz zuweist.
Oliver Wiertz’ grundlegender Beitrag (211-253) steht in analytischer Tradition und dient dem Ziel, durch systematische Rekonstruktion des Rationalismusbegriffs zu klären, warum sowohl Verächter wie Verteidiger der Religion dem vom jeweiligen Rationalismusbegriff abhängigen Begriff des Irrationalismus zuschreiben können. Seine These lautet, dass ein moderner, abstrakter Rationalismusbegriff von einem Rationalismusbegriff mit menschlichem Maß zu unterscheiden ist: gegen den ersten wenden sich diejenigen Vertreter, die die Religion als irrational verteidigen wollen, während sie dem zweiten zustimmen müssten. Der erste, die Moderne weithin beherrschende Rationalismusbegriff ist durch zehn Kennzeichen charakterisiert, u . a. durch folgende (216 ff.): Ra­tionalität wird allein instrumentell verstanden. Beurteilungsmaßstab ist ihre Effizienz; sie ist abstrakt objektivierbar, also quantifizierbar im Sinne der Naturwissenschaften; sie arbeitet mit Idealisierungen – alle Kriterien der Rationalität müssen erfüllt sein, damit etwas als rational gilt – und mit der Annahme, dass es in jeder Situation nur eine angemessene Handlung gibt. Wiertz legt die Selbstwidersprüchlichkeit dieses Modells dar, da etwa ein rein instrumentelles Verständnis von Rationalität auch zum vollständig rationalen Tun des Bösen wie der effizienten Unterdrückung eines Volkes dienen kann. Das aber widerspricht der Tatsache, dass »rational« positiv wertend gebraucht wird und rationale Handlungen somit zur Nachahmung empfohlen sind (221). Demgegenüber entwickelt Wiertz ein alternatives Modell der Rationalität, das einen »mittleren Kurs zwischen einem rationalitätsanalytischen »anything goes« und unrealistisch hohen Anforderungen (233) einschlägt. Diese Rationalität ist auch situativ, sie ist nicht nur instrumentell, und ihr ist auch die Religion verpflichtet.
Der vielleicht originellste Beitrag des Bandes ist der nicht sehr prominent platzierte Aufsatz von Curtis L. Thompson, »The De­lightful Irrational Fruits of Dancing in God« (113–151). Im Gegensatz zu den »brights« wie Dennett sieht er sich als »digger«, als »d-ancer i-n G-od«, und bedenkt dafür neben Kierkegaard auch Hegel und Whitehead und damit Rationalitätskonfigurationen, die mit dem Modell von Wiertz auch substantiell und situativ verfasst sind und zugleich – darüber hinausgehend – in den umfassenden Be­gründungsrahmen einer »ontologischen Rationalität« samt klassisch-moderner Begründungstiefe gefasst sind. Unter Rekurs auf diese drei Autoren wird eine religionsphilosophisch ge­gründete Gesamtdogmatik angedeutet, die Gott, Welt und Mensch als durch die Rationalität des Tanzes gekennzeichnet sieht. We­sentliche Momente sind dabei erstens das pantheistische Moment, das alle Wirklichkeit als Teil des organischen kosmischen Tanzes fasst, zweitens das panentheistische Modell des »Christic Dance« (135) nach Form des Dialogs, drittens das »pantransentheistische« (137), in dem alle Wirklichkeit als zu neuem Tanz und neuer Tat befreit bestimmt ist. Auch wenn man fragen kann, ob die hier vorgelegte Hegel-Lesart haltbar ist, gilt: nimm, lies und tanz!
So ist der Band ausgesprochen lesenswert, da seine Konzeption überzeugt und dessen Beiträge zumeist historisch bestens informieren, systematisch differenziert argumentieren und teils tiefgehend und originell sind. Dass Jacobi als Bezugsautor fehlt, wird von den Herausgebern selbst eingeräumt und kurz erklärt; zudem könnte man fragen, ob der Kierkegaard-Teil nicht übergewichtet und die Auseinandersetzung mit weiteren klassischen (Marx, Freud fehlen) und gegenwärtigen (Neuer Atheismus) Vertretern des attackierenden Irrationalismus-Vorwurfs nicht hätte expliziter erfolgen können. Zudem ist der Titel des Bandes leicht irreführend, geht es doch fast durchgehend um das Verhältnis von Christentum und Irrationalität – genauer: um das Christentum in der Lesart westlicher protestantischer Autoren der letzten 200 Jahre –, nicht um das von Religion und Irrationalität insgesamt. Dennoch ist das Buch sehr zu empfehlen.