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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

97-99

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

[Gawlick, Günter]

Titel/Untertitel:

Gestalten des Deismus in Europa. Hrsg. v. W. Schröder. Günter Gawlick zum 80. Geburtstag.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag (in Kommission der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) 2013. 292 S. = Wolfenbütteler Forschungen, 135. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-447-10011-3.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Den Deismus tiefer zu beleuchten und klarer zu definieren, stellt nach wie vor eine Aufgabe der philosophie- und theologiehistorischen Forschung dar. Die mit diesem Begriff locker zusammengehaltene europäische Geistesströmung bildet eine deutlich vielschichtigere Spielart in der Philosophie und Theologie der Neuzeit als populär oft kolportiert (»Uhrmachergott«). E. Troeltsch hat den Deismus vor 100 Jahren als »Religionsphilosophie der Aufklärung« bezeichnet, doch weder liegen bislang allgemein anerkannte Definitionen vor noch sind die Grenzen abgesteckt, in denen man als Deist zu gelten hätte. Dieses weite Feld umreißt der vorliegende Band »Gestalten des Deismus in Europa«, indem er Schlaglichter auf einzelne »Gestalten« setzt, ohne gleich den Deismus in Europa darstellen zu wollen.
In dieser Intention findet sich denn auch die Würdigung dieses Bandes, der Beiträge versammelt, die auf einem aus Anlass des 80. Geburtstags von Günter Gawlick veranstalteten Arbeitsgespräch an der Herzog-August-Bibliothek im Juni 2010 gehalten wurden. Insgesamt wäre eine über den Klappentext hinausgehende ordentliche Einleitung hilfreich gewesen.
Die Beiträge sind vielgestaltig in Form, Länge und Ertrag, auf eine Untergliederung wurde verzichtet. Ein kurzes Sach- und Be­griffsregister ist beigegeben sowie ein neunseitiges Namenregister, welches allein schon die Vielzahl von Personen, die mit dem Deismus in Zusammenhang zu bringen sind, deutlich macht.
Der Herausgeber W. Schröder eröffnet mit einem eine Einleitung ersetzenden Beitrag. Ausgehend von der Feststellung: »Wenn es eine Gemeinsamkeit in den neueren Veröffentlichungen zum Deismus gibt, dann besteht sie […] in der Klage über die Schwierigkeiten, seine Bedeutung klar zu fassen.« (7), erinnert er an den Vorschlag Gawlicks von 1973, »das gedankliche Zentrum des Deismus in der Idee der Suffizienz der natürlichen Religion zu erblicken« (8). Diese Definition freilich ist über 40 Jahre alt und wenig mehr als ein möglicher kleinster gemeinsamer Nenner deistischer Positionen. Im folgenden kritischen Forschungsüberblick hätte ein Seitenblick auf die theologiehistorische Forschung hilfreich sein können. – Die weiteren Beiträge fächern das Forschungsfeld dann auf.
M. R. Antognazza zeigt Leibniz’ Auseinandersetzung mit Tolands »Christianity not Mysterious« und verteidigt »the permanence of mysteries in the Christian religion« (40) auch mittels einer Erinnerung an die Beschränkungen menschlicher Vernunft, in der »natural sphere« oder der »supernatural sphere«.
M. Bollacher untersucht Lessings Verhältnis zum Deismus anhand des Umgangs mit den Fragmenten des Reimarus. Die theologische Landschaft wird dabei etwas unscharf umrissen. Lessing wird als Mediator zwischen dem harten Deismus Reimarus’ und der herrschenden Neologie betrachtet.
W. Breidert folgt mit einem Beitrag zu George Berkeleys Verhältnis zum Deismus, das vor allem eine Gegnerschaft war. Breidert stellt es etwas einseitig als Misskreditierungsversuch dar.
Auch G. Gawlick kommt – freilich wenig programmatisch – zu Wort: »Eine antike Säule im Gebäude des Deismus«. Nach einer Erinnerung an seine Definition von Deismus (79) untersucht er das Auftauchen Ciceros in deistischen Quellen. Er fokussiert dabei Schlüsselthemen wie auch strukturellen Einfluss und analysiert verschiedene deistische Vertreter daraufhin.
In Einzelstudien betätigt sich J. Glebe-Møller zum Deismus in Dänemark am Beispiel des Generals Schmettau, den er auf eine Form des Deismus (Gott, Tugend, Unsterblichkeit [107]) untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass in Dänemark (das man freilich nicht von Deutschland völlig unterscheiden könne), »um die Jahrhundertwende deistische, quasi-deistische oder rationa-lis­tische Strömungen […] verbreitet waren.« (111).
J. Israel fragt: »Can Deists Be Radical?« und untersucht das Verhältnis von Deisten zur Radikalen Aufklärung. Voltaire argumentierte nicht nur gegen Protagonisten des Deismus, sondern griff grundlegender ihre Quellen bei Bayle und Spinoza an. Rousseaus Position schillert in dieser Frage (»deistic radicalism« [134]) und ist nicht frei von Widersprüchen in sich.
L. Kreimendahl wendet sich dem jungen Kant zu und zeigt in fein argumentierender Analyse gegenüber einem vermuteten Materialismus in Kants Frühschriften der 1760er auch dort ein pietistisch geprägtes theistisches Weltbild auf.
M. Mulsow fasst mit Christian Ludwig Paalzow einen »weithin vergessenen Vertreter der preußischen Spätaufklärung« (162) ins Auge, der französischsprachige radikalaufklärerische Schriften nach Deutschland vermittelte. Als Sprech-akte verstanden eignet diesen clandestinen Werken oft eine große Unklarheit bezüglich der Grenze zwischen Übersetzung, Parodie, Montage verschiedener Autoren, eigener und fremder Sprache, so dass sich an Paalzows Werk die »unklare Entwicklung des spätaufklärerischen Deismus in Deutschland« (194) zeigen lässt.
G. Paganini macht auf 40 Seiten den Vorschlag, Fragen bezüglich Humes »Dialogues« hinsichtlich seiner religionsphilosophischen Position zwischen Deismus, Atheismus und Skeptizismus, die sich u. a. auch an seiner Rückkehr zum design-Argument in der »final section« der Dialoge in der Forschung breit entzündet hat, gewinnbringend durch Rückgriff auf die zugrundeliegenden Quellen, v0r allem Bayle, aufzuklären zu unternehmen.
Dem Deismus in Leipzig geht M.-H. Quéval auf die Spur und widmet sich dem Ehepaar Gottsched. In persönlichen Äußerungen macht sie dort ein »gut zusammenhängendes System« (261) aus, »getragen von der unverhohlnen Absicht, mit den Deisten die Offenbarung zugunsten der natürlichen Theologie und des Naturrechts auszuhöhlen« (ebd.). Diese Ergebnisse freilich hätten noch mit sonstigen Äußerungen und der bisherigen Forschung ins Verhältnis gesetzt werden müssen.
W. Schröder schließt den Reigen mit einem Beitrag zu Impulsen spätantiker Religionsphilosophen und Christentumskritiker auf den Deismus, namentlich Kelsos, Porphyrios und Julian Apostata. Obgleich gegen den Platonismus große Vorbehalte in der Aufklärung herrschten, lässt sich zeigen, wie die Deisten »mit sachlichem Gewinn« auf diese Denker zurückgriffen – auch in ihrer auf der Basis der Idee der natürlichen Religion aufbauenden Anerkennung religiöser Pluralität (266). Der Beitrag hat mehr Registercharakter, bietet aber interessante Zusammenhänge.
Der Band vermag interessante Impulse zu setzen und Spuren für die weitere Forschung zu legen. Vor allem zeigt er, wie vielgestaltig das Forschungsfeld ist und welche Fragestellungen der Klärung harren. Vornehmlich adressiert ist er an den schon halbwegs Kundigen. Insofern lässt er sich wirklich als Würdigung der Verdienste Gawlicks verstehen, den Deismus einer weiteren Klärung und tiefenscharfen Erfassung zu unterziehen. Interdisziplinär zeigt der Band die ausbaufähige Verzahnung von philosophie- und theo-logiegeschichtlicher Forschung, die auch ausgeweitet auf den ge­samteuropäischen Raum allen Seiten zugutekommen würde.