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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

83-87

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

The Collected Works of Edward Schillebeeckx. XI Vols.

Titel/Untertitel:

T & T Clark (Bloomsbury) 2014. Vol. 1: Christ the Sacrament of the Encounter with God. Introduction by T. M. Schoof. 192 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-41723-7.Vol. 2: Rev-elation and Theology. Introduction by T. M. Schoof. 352 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-65308-6. Vol. 3: God the Future of Man. Introduction by T. M. Schoof. 144 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-45031-9. Vol. 4: World and Church. Introduction by T. M. Schoof. 272 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-05422-7. Vol. 5: The Understanding of Faith. Interpretation and Criticism. Introduction by T. M. Schoof. 176 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-17255-6. Vol. 6: Jesus. An Experiment in Christology. Introduction by H. Haring. 704 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-01482-5. Vol. 7: Christ. The Christian Experience in the Modern World. Introduction by R. Schreiter. 912 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-22460-6. Vol. 8: Interim Report on the Books »Jesus« and »Christ«. Introduction by M. C. Hilkert. 144 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-14854-4. Vol. 9: The Church with a Human Face. Introduc-tion by E. Borgman. 304 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-10505-9. Vol. 10: Church. The Human Story of God. Introduction by L. Boeve. 288 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-35584-3. Vol. 11: Essays. Ongoing Theological Quests. 240 S. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-567-64154-0. Gesamtpreis: £ 600,00. Gesamt-ISBN 978-0-567-65705-3.

Verlag:

London u. a.

Rezensent:

Carsten Barwasser

Am 12. November 2014 hätte der flämische Theologe Edward Schillebeeckx (1914–2009) seinen 100. Geburtstag gefeiert. Aus Anlass des Jubiläums veröffentlichte die Schillebeeckx Foundation eine elfbändige Sammlung der bedeutendsten Schriften S.’ in englischer Übersetzung. Im Vorfeld dieser Neuausgabe seiner Werke wurde auch die Frage diskutiert, welchen Umfang diese Sammlung haben sollte. Aufgrund der Menge an Veröffentlichungen, die S. im Laufe seines langen Lebens hinterlassen hatte, schied eine Publikation aller Schriften von vornherein aus, auch wenn dies bedauerlich ist, da so einige seiner bedeutenden Schriften aus der Frühzeit weiterhin nur schwer zugänglich sind. Eine weitere Frage, die sich den Herausgebern stellte, war die Frage der Sprache der Veröffentlichung. S. hat seine Werke auf Niederländisch verfasst, so dass es naheliegen würde, diese auch im Original wieder zu veröffentlichen. Die Herausgeber haben sich dagegen für eine Neuausgabe der englischen Übersetzungen der wichtigsten Werke von S. entschieden. Dies erscheint sinnvoll zu sein, denn S. erfreut sich gerade im englischsprachigen Raum eines weiterhin großen Interesses, was nicht zuletzt die zahlreichen Arbeiten zu seinem Werk zeigen. Die Neuausgabe hat sowohl einige Artikel erstmals ins Englische übersetzt als auch versucht, Fehler und sprachliche Mängel der bisherigen Übersetzungen zu korrigieren. Nach Aussage der Herausgeber wurde dabei besonders Band IX, The Church with a Human Face, so verändert, dass die ältere Übersetzung dieses Werks nicht mehr gültig ist. Ob die Veränderungen tatsächlich den Originaltext besser wiedergeben als die älteren Versionen, wird im Einzelnen zu überprüfen sein. Eine nicht unproblematische Veränderung der englischen Übersetzung gegenüber dem Original wurde jedenfalls nicht revidiert, wie ein Blick auf den Titel des sechsten Bandes zeigt. Heißt es im Original Jezus, het verhaal van een levende, was die deutsche Ausgabe korrekt als Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden übersetzt, lautet der englische Titel Jesus. An Experiment in Christology, was mit Blick auf den Inhalt des Buches eine Akzentverschiebung bedeutet. Eine neue, wortgetreue Übersetzung wäre hier wahrscheinlich angemessener gewesen.
Die Werke selbst wurden nach Aussage der Herausgeber aufgrund ihrer historischen Bedeutung, ihrer theologischen Relevanz und ihres Einflusses auf die Theologie und Kirche ausgesucht. Dass S., wie die Herausgeber feststellen, »one of the most creative and influential theologians of the 20th and 21st century« (I, xiii) ist, wird wohl unbestritten sein. Dennoch bleibt zu fragen, worin eigentlich die Bedeutung dieser Neuausgabe für die Theologie heute besteht, denn es ist ja auch wahr, dass S. zu den umstrittensten katholischen Theologen des 20. und 21. Jh.s zählt. Fest steht sicherlich, dass S. mit seinem Werk, das mit seinen frühesten Artikeln in den 40er Jahren einsetzt, die Entwicklung vor allem der katholischen Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s widerspiegelt und diese auch geprägt hat. Insofern ist das theologiegeschichtliche Interesse an seinem Gesamtwerk sicherlich der vorrangige Grund, warum man sich mit den Collected Works beschäftigen sollte. Darüber hinaus wird man aber auch fragen müssen, inwieweit die Neuausgabe weiterführende Perspektiven für die aktuellen Fragen der Theologie aufzuzeigen vermag.
Mit dem ersten Band der Reihe, Christ the Sacrament of the En­counter with God, erstmals veröffentlicht 1959, präsentiert die Neuausgabe zwar nicht die chronologisch frühste größere Veröffent-lichung von S. – dies wäre seine 1952 nur auf Niederländisch er­schienene Dissertation De sacramentele Heilseconomie –, aber es ist das Buch, welches ihn auch international als Theologen bekannt machte. Wie bereits in seiner Dissertation, so versucht S. auch hier die neuscholastische Sakramententheologie durch einen Dialog mit der zeitgenössischen Philosophie aufzubrechen, um so neue Perspektiven für ein heutiges Verständnis der Sakramente zu gewinnen. S. bezieht sich hier vor allem auf eine Phänomenologie der personalen Begegnung, wie sie von Maurice Merleau-Ponty ausgearbeitet wurde. S. hat sich so in der Theologie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil als Theologe etabliert, der in der Tradition der »Nouvelle The´ologie« historisch orientierte Studien zu Thomas von Aquin mit neuzeitlicher Philosophie zu verbinden verstand. Diese frühe Phase seines theologischen Ansatzes zeigt sich auch in der Aufsatzsammlung Revelation and Theology, welche den zweiten Band der Reihe bildet und ursprünglich 1964 veröffentlicht wurde. So beschäftigen sich gleich zwei Artikel mit dem eher technischen Thema eines nicht-begrifflichen Erkenntnismoments in der Frage der Gotteserkenntnis. Diese Frage steht jedoch im Zu­sammenhang mit der Diskussion über eine transzendental-thomis­tische Erkenntnistheorie, wie sie von Joseph Maréchal aus-ge-arbeitet und später von Karl Rahner weitergeführt wurde. S. entwickelt hier auf der Grundlage seiner eigenen Thomasinterpretation das Mo­dell einer transzendentalen Dynamik der Erkenntnis, die er als »implizite Intuition« bezeichnet und die ihn von Maréchal und Rahner unterscheidet.
Einige dieser Ansätze werden auch in den anschließenden drei Bänden der Collected Works weitergeführt, aber der Schwerpunkt liegt hier eindeutig auf der sich abzeichnenden hermeneutischen Wende im Denken von S. am Ende der 60er Jahre. Neben Thomas von Aquin treten nun als philosophische Referenzpunkte die Hermeneutische Philosophie von Gadamer, die Sprachphilosophie des »linguistic turn« und die Kritische Theorie der Gesellschaft in der Form des Werkes von Jürgen Habermas. Die Frage nach dem Erfahrungsbezug des Glaubens tritt nun in den Vordergrund der Theologie von S., als Frage nach der Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches in menschlichen Grunderfahrungen und in der Auseinandersetzung mit einer sich weiter säkularisierenden Ge­sellschaft. S. zeigt sich gerade hier als theologischer Zeitgenosse, der Antworten geben will auf die drängenden Fragen der Zeit.
Dies zeigt sich auch in seinen christologischen Werken, die Band VI, VII und VIII der Reihe bilden. Gerade der erste christologische Band, Jesus. An Experiment in Christology, gilt heute als Klassiker der modernen Christologie. Selten zuvor hat ein Dogmatiker sich so intensiv in die Ergebnisse der Exegese eingearbeitet, um eine historisch ausgewiesene Christologie zu entwickeln. S. geht es darum, die Ursprungserfahrung der christlichen Gemeinde zu rekonstruieren, um so aufzuzeigen, wie der Glaube aus der Erfahrung von »Heil-von-Gott-her« in Jesus von Nazareth entstanden ist. »Religion is not concerned with a message that has to be believed but with an experience of faith which is presented as a message. […] Revelation takes place in historical human experiences in this world […]. This experiential structure of revelation is expressed in an extremely evocative way in the Christian revelation, which had its beginning in a historical encounter of men with a fellow man: Jesus of Nazareth.« (VII, 48) Die Frage der Auferstehungserfahrung der Jünger löste jedoch auch Kontroversen zum christologischen Ansatz von S. aus, die letztlich nicht nur zu einer vatikanischen Untersuchung führten, sondern auch zu seiner Rechtfertigungsschrift Interim Report on the Books Jesus and Christ (Bd. VIII). Ebenfalls ein Auslöser für innerkirchliche Kontroversen wurde sein Buch The Church with a Human Face (Bd. IX), das sich kritisch mit der Frage des kirchlichen Amtes und der hierarchischen Struktur der Kirche auseinandersetzt. Die Frage nach einer Demokratisierung der Kirche beschäftigte S. auch in seiner letzten größeren Mo­nographie, Church. The Human Story of God (Bd. X), die ursprünglich 1989 veröffentlicht wurde. Den Schwerpunkt des Buches bildet jedoch wiederum die Frage nach der praktischen Verantwortung des Glaubens in einer säkularen Gesellschaft und der gemeinsamen Erfahrungsbasis, auf der sich der Sinn des christlichen Glaubens vermitteln lässt. Diese gemeinsame Erfahrungsbasis ist die Kontrasterfahrung, die nun zu einer radikalen Basiserfahrung von Menschen wird: »I want to radicalize what I have previously […] called important human experiences, namely negative experiences of contrast: they form a basic human experience which as such I regard as being a pre-religious experience and thus a basic experience accessible to all human beings, namely that of a ›no‹ to the world as it is.« (X, 5) In diesem »Nein« zur Welt steckt jedoch auch ein implizites »Ja«, welches unthematisch mit bedacht wird und letztlich die Voraussetzung dafür ist, überhaupt das grundsätzliche »Nein« sagen zu können. Dieses »Ja« wird nun unterschiedlich interpretiert werden können, und die religiösen Traditionen sind eine Möglichkeit, die positive Vision einer besseren Welt zu formulieren. S. hatte in seinem Jesus-Buch von einem Bruch mit der Idee einer »impliziten Intuition« eines möglichen Universalsinnes gesprochen und stattdessen eine praktische Antizipation universalen Sinns in der geschichtlichen Praxis des Glaubens in der Welt vorgeschlagen (VI, 580 f.). Die Frage nach einem Bruch im Denken von S. ist eine der kontroversen Fragen im Blick auf sein Gesamtwerk, und die Gesamtschau seiner Texte, wie sie in den Collected Works vorliegt, ermöglicht es nun, auch die Kontinuitäten zu se­hen, wie etwa die transzendentalen Voraussetzungen der Kontrasterfahrung im impliziten »Ja« des Menschen.
Den Abschluss der Reihe bildet Band XI mit einer Sammlung von Aufsätzen, die zumeist vorher noch nicht ins Englische übersetzt worden waren. Die meisten Texte sind aus den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, so etwa ein längerer Artikel über Experience and Faith, der ursprünglich unter dem Titel Erfahrung und Glaube 1980 auf Deutsch erschienen war, oder der Text der Abschiedsvorlesung von S. in Nijmegen 1983. Als Rahmen für die Collected Works kann der letzte Artikel dienen, der ursprünglich 2000 erschien und damit der jüngste Artikel in der gesamten Reihe ist. Towards a rediscovery of the Christian sacraments: Ritualising religious elements in daily life zeigt den sakramententheologischen Entwurf von S. am Ende seines theologischen Schaffens, der so eine Entwicklung, die mit Band I Christ the Sacrament of the Encounter with God beginnt, abschließt. S. ist hier ganz auf den humanwissenschaftlichen Zugang zur Frage der Bedeutung der Sakramente eingeschwenkt, indem er diese von der kulturwissenschaftlichen Perspektive der »Ritual Studies« her betrachtet. Sakramente sind Ritualisierungen von Alltagserfahrungen, die etwa in Liturgien oder kultischen Handlungen ausgedrückt und interpretiert werden. Der spezifische Wahrheitsanspruch, der von einem traditionellen christlichen Sakramentenverständnis ausgeht, wird so nicht mehr vermittelt oder reflektiert. Insofern spiegelt sich hier ein pluralistischer Ansatz, der sich auch in anderen Aufsätzen dieses Bandes wiederfindet, etwa im Hinblick auf das Thema von Religion und Gewalt. Band XI enthält aber auch die Antrittsvorlesung von S. in Nijmegen 1958 mit dem Titel The Search for the Living God, der programmatisch die theologische Perspektive von S. zusammenfasst: »Theology, which claims God himself as its subject, has every reason to be modest nowadays, since everywhere his nonexistence is proclaimed as an almost existential experience. As a result we are compelled to circumscribe more exactly the area in which theology, as faith which has become science, establishes contact with the reality of God.« (XI, 35) In diesem Satz steckt nicht nur das ur­sprüngliche Theologieverständnis von S. als Glaube, der selbst zur Wissenschaft geworden ist (fides in statu scientiae), sondern auch die Grundfrage seiner Theologie: Wie kann der endliche Mensch der unendlichen Wirklichkeit Gottes begegnen?
Die Collected Works ermöglichen es, der Entwicklung dieser Fragestellung im Gesamtwerk von S. nachzugehen und die Entwicklung von einem transzendental-thomistischen Ansatz hin zu einer praktisch-hermeneutischen Theologie der Erfahrung nachzuzeichnen. Es zeigen sich hier auch gewisse Parallelen zur Entwicklung der Neuen Politischen Theologie von Johann Baptist Metz und es stellt sich die Frage, welche aktuelle Bedeutung ein solcher theologischer Entwurf für die Theologie des 21. Jh.s hat oder ob diese Theologie letztlich zeitbedingt zur Vergangenheit des 20. Jh.s gehört. In der Kategorie der Kontrasterfahrung, durch die S. die allgemeine Leidensgeschichte der Menschheit konkretisiert und auf die sich seine narrativ-politische Theologie stützt, um ihren Wahr heitsanspruch zu rechtfertigen, zeigt sich einerseits der Ausfall einer theoretisch-philosophischen Bestimmung der christlichen Interpretation menschlicher Erfahrung, aber andererseits bietet der Rekurs auf diese Intensiverfahrung die Möglichkeit, an die aktuellen Fragen der Theologie anzuknüpfen. Dafür ist jedoch eine transzendental-anthropologische Frage nach der Möglichkeit von Kontrasterfahrung überhaupt notwendig, die an frühere Schriften von S. anknüpfen kann. Hier lassen sich Ansätze zu einer transzendentalen Analyse der conditio humana finden, welche die Kontrasterfahrung als Erfahrung der Freiheit und Kontingenz des Menschen aufzuzeigen vermag. Für eine anthropologisch-philosophische Begründung des Anknüpfungspunktes für die Realität Gottes im Menschen, vermittelt durch die Kategorie der Kontrasterfahrung, bietet das Frühwerk von S. immer noch wesentliche Einsichten, die zu einer theoretischen Grundlegung einer praktisch-hermeneutischen Theologie beitragen können. Der Blick auf das gesamte Werk von S. zeigt aber auch, dass sein theologisches Projekt letztlich unvollendet geblieben ist. In dieser Offenheit seines theologischen Denkens liegt aber auch die Chance, mit S. über ihn hinaus zu denken. Es ist dann aber auch notwendig, für eine grundlegende und vertiefte Auseinandersetzung mit S.’ Texte einzubeziehen, die bisher noch nicht in die Reihe der Collected Works aufgenommen wurden. Hier besteht für die Zukunft der Wunsch, die Reihe auch noch mit früheren Werken und kleineren Schriften der späteren Jahre zu ergänzen. Das Gesamtwerk von Edward Schillebeeckx ist jedenfalls nicht nur für die Theologiegeschichte des 20. Jh.s, sondern auch für die aktuellen Fragestellungen der Theologie von einer solchen herausragenden Bedeutung, dass sich eine Weiterführung der Collected Works in jedem Fall lohnen würde.