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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1468–1470

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schneider, Anna

Titel/Untertitel:

Dimensionen der Einheit. Ekklesiologische Konzeptionen der Kirche von England im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XII, 394 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 166. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-031769-5.

Rezensent:

Julia Winnebeck

Die Anfänge der ökumenischen Bewegung fallen in eine Zeit heftiger innerkirchlicher Auseinandersetzungen über dogmatische, litur- gische und ekklesiologische Fragen, welche die Einheit der Church of England gefährdeten. Anna Schneider nimmt diese Beobachtung zum Anlass, aus systematisch-theologischer Perspektive nach dem ökumenischen Potential der innerkirchlichen Divergenz zu fragen. In ihrer Dissertationsschrift, die am Ökumenischen Institut der Universität Heidelberg von Friederike Nüssel betreut und im Sommer 2012 an der Theologischen Fakultät Heidelberg angenommen wurde, bietet S. deshalb erstmals eine »vergleichende Analyse der ekklesiologischen Strömungen innerhalb der Kirche von England im 19. Jahrhundert« (5). Die Ergebnisse dieser Analyse wertet sie an­schließend einerseits hinsichtlich ihrer Bedeutung für die innere Einheit der Church of England und andererseits mit Blick auf den Beitrag der anglikanischen Theologie zum ökumenischen Dialog aus.
Quellengrundlage ihrer Untersuchung bilden ekklesiologische Kerntexte der Hauptvertreter der drei dominierenden kirchlichen Richtungen innerhalb der Church of England, die im Kontext der »komplexen Auseinandersetzungen« (377) in Folge der politischen Gleichberechtigung von Nicht-Anglikanern Anfang des 19. Jh.s entstanden sind. Aus ihnen rekonstruiert S. im ersten Teil ihrer Untersuchung (Kapitel 2–4) die ekklesiologischen Positionen der konservativen High Church, der evangelikalen Low Church sowie der liberalen Broad Church und bringt diese in systematisierter Form kritisch miteinander ins Gespräch. Dabei geht S. von der These aus, dass die innerhalb der Church of England miteinander konkurrierenden Bestimmungen von Wesen, Funktion und Autoritätsbasis der Kirche aus einer unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche resultierten: Während die Vertreter der konservativen Richtung (vgl. 2.1) unsichtbare und sichtbare Kirche miteinander identifizierten, unterschieden sowohl die Evangelikalen (vgl. 2.2) als auch die Liberalen (vgl. 2.3) deutlich zwischen beiden, wobei die Evangelikalen die Heilsbedeutung der unsichtbaren und die Liberalen die Erziehungsfunktion der sichtbaren Kirche betonten (85). Dies habe S. zufolge die Konsequenz, dass die konservativen ekklesiologischen Entwürfe Funktion und Autoritätsbasis der Kirche aufs Engste mit ihren sichtbaren institutionellen Strukturen, und hier insbesondere mit dem Amt in apostolischer Sukzession, v erbänden (vgl. 3.1; 4.1). Umgekehrt erlaube die klare Differenzierung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche bei den Evan-gelikalen und Liberalen eine größere Flexibilität hinsichtlich der äußeren kirchlichen Merkmale. Allerdings halte die evangelikale Richtung in der Regel an der Notwendigkeit eines Fundamentalkonsenses in der Lehre sowie der Durchsetzung einer einheitlichen Kirchenordnung innerhalb der einzelnen Partikularkirchen fest, während die liberale Richtung mit Blick auf den universalen Erziehungsauftrag der sichtbaren Kirche für die größtmögliche Variabilität in Bezug auf Lehre und Verfassung der unterschiedlichen Na­tionalkirchen plädiere (vgl. 3.2–3; 4.2–3).
Mithilfe eines systematischen Vergleichs des Einheits- und Katholizitätsverständnisses der kirchlichen Richtungen demonstriert S. im zweiten Teil ihrer Untersuchung (Kapitel 5–7), dass die drei unterschiedlichen ekklesiologischen Positionen keine gemeinsame Grundlage für die innere Einheit der Kirche teilen (vgl. Kapitel 5). Stattdessen beruhe die Einheit der Church of England auf unterschiedlichen Auslegungen der offiziellen kirchlichen For-mulare, deren »Formulierungsoffenheit« (320) eine fragile (323) Koexistenz der verschiedenen theologischen Strömungen innerhalb einer Kirche ermögliche (vgl. 6.1). Auch die Lehrdokumente des 20. und 21. Jh.s blieben S. zufolge dieser Tradition treu, indem sie zugunsten »einer rein pragmatischen« (332) kirchlichen Einheit genug Interpretationsspielraum für die unterschiedlichen ekklesiologischen Positionen böten (vgl. 6.2).
Die innere Divergenz der Church of England in Fragen der Ekklesiologie berge nun einerseits – so die m. E. zentrale Erkenntnis der Untersuchung – ungeheures ökumenisches Potential, weil sie »diese Kirche im Dialog nach Außen in besonderer Weise dazu befähige[…], auf die jeweiligen Vorstellungen des Gesprächspartners einzugehen.« (360) Zentrale inhaltliche und formale Einheitskriterien der Konservativen, wie beispielsweise die Hochschätzung von Tradition und apostolischer Sukzession, bildeten die Basis für die ökumenische Annäherung der Church of England an die römisch-katholische Kirche sowie orthodoxe Kirchen (vgl. 5.2.1). Gleichzeitig erlaubten die evangelikale Akzentuierung des inneren, individuellen Glaubens sowie die »generelle inhaltliche und formale Offenheit« (276) der Liberalen eine große Aufgeschlossenheit im Dialog mit Nonkonformisten und kontinentalen Reformationskirchen (vgl. 5.2). Entsprechend belegt denn auch S.s Auswertung der zentralen anglikanischen Beiträge zum ökumenischen Dialog (vgl. Kapitel 7), dass sich weder der stärker exklusive Ansatz der konservativen, noch der stärker inklusive Ansatz der evangelikalen oder liberalen Richtung durchsetzen konnte. Stattdessen seien zentrale Ansprüche aller drei kirchlichen Richtungen berücksichtigt worden, wobei sich in Lehrfragen eher die liberalen und evangelikalen Positionen als tragfähig erwiesen hätten, während die anglikanischen Beiträge zu Kirchenverfassungsfragen von der konser-vativen Position dominiert würden. Andererseits erschwerten die innerhalb der Church of England miteinander konkurrierenden Einheitsvorstellungen S. zufolge eine gemeinsame Annäherung der drei kirchlichen Richtungen an andere christliche Kirchen. So sei das konservative Modell einer in Lehre und Verfassung geeinten Gemeinschaft kaum mit der evangelikalen Vorstellung von sichtbar getrennten, aber einander in Liebe verbundenen, Partikularkirchen oder dem liberalen Ideal voneinander unabhängiger, aber gemeinsam aktiver Nationalkirchen vereinbar. Dadurch bestehe prinzipiell die Gefahr, dass die ökumenischen Gespräche, die von den verschiedenen Richtungen vergleichsweise unabhängig voneinander geführt würden, einander widersprechende Ergebnisse erbrächten und zugunsten der inneren kirchlichen Einheit der Church of England somit letztlich wirkungslos bleiben müssten.
Insgesamt bietet die Untersuchung eine kenntnisreiche, systematische Gesamtdarstellung der verschiedenen ekklesiologischen Positionen innerhalb der Church of England im 19. Jh., die ein besseres Verständnis sowohl der gegenwärtigen inneren Vielfältigkeit dieser Kirche als auch der anglikanischen Haltung im ökumenischen Dialog ermöglicht. Aus kirchenhistorischer Perspektive wäre lediglich eine ausführlichere Darstellung des kirchengeschicht-lichen Kontexts der ekklesiologischen Diskussion des 19. Jh.s wünschenswert gewesen. Dieser wird außer im Rahmen der Einleitung (vgl. 1.2) nur in einigen knappen Exkursen thematisiert, die leider nicht im Inhaltsverzeichnis erscheinen. Aufbau und Form des Werkes überzeugen insbesondere durch die thesenartigen Hinführungen am Anfang und die präzisen Zusammenfassungen der Ergebnisse am Ende jedes Kapitels. Die strukturierte Gliederung des Gesamtwerkes erlaubt auch eine kursorische oder selektive Lektüre der umfangreichen Untersuchung – je nachdem, ob das Interesse des Lesers an den ekklesiologischen Entwürfen des 19. Jh.s oder der Positionierung des Anglikanismus im ökumenischen Dialog des 20. und 21. Jh.s überwiegt.