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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1459–1461

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Welker, Michael, and Gregor Etzelmüller [Eds.]

Titel/Untertitel:

Concepts of Law in the Sciences, Legal Studies, and Theology.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. IX, 395 S. = Religion in Philosophy and Theology, 72. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152742-5.

Rezensent:

Hans-Tjabert Conring

In dem vorzustellenden Band geht es um die Entdeckung, Etablierung und Deutung von Ordnungsmustern. Die Frage des direkten und des metaphorischen Gebrauchs von »law« zieht sich durch die neunzehn Beiträge (in englischer Sprache) unterschiedlicher Fachrichtungen (Physiker, Chemiker, Biologen, Juristen und Theologen). Leider sind die separaten Personen- und Sachregister fragmentarisch und daher nur eingeschränkt nützlich. Ein Sammelband ist weder Lehr- noch Handbuch. Er kann Neugier wecken, Perspektiven zeigen und Schneisen in das wissenschaftliche Dickicht schlagen. Das alles ist den Herausgebern mit diesem Band gelungen.
Die Herausgeber verweisen in ihrer Einleitung auf Wang Liuer (Natural Law and Chinese Tradition, 373–384). »Law« und »Nature« seien auch in der chinesischen Sprache gefüllte Begriffe. Die Komposita »natural Law«/»Law of nature« hingegen seien »westliche« Konzepte ohne direkte Übersetzungsmöglichkeit. Meistens werde mit chinesischen Worten vieles gleichzeitig gesagt, hier – im Fall von »law« – aber sei die chinesische Sprache mit den Begriffen Li (= Ordnung, Ritus, Eigenschaft), Fa (= menschengemachtes Gesetz) und Zhi (= Kontrolle) an Präzision dem westlichen Sammelwort »law« voraus (377 f., Anm. 10). Freilich ist »law« nicht der einzige Terminus, mit dem das komplexe Feld bearbeitet werden muss. Patrick D. Miller weist auf die edukative und katechetische Seite der rechtlichen Begriffswelt (codes, constitution customs, declaration, habits, morales, ordinances, patterns, rules, statutes, um nur einige zu zitieren) in seinem Beitrag »That you may live« hin (137 ff. [140]). Ganz ohne historisch gewachsene Ordnungs- und Ge­dankengebäude narrativer oder wissenschaftlicher Prägung wird auch in chinesischer Perspektive dieses anthropologische Thema unterkomplex bleiben.
Harold J. Berman (1918–2007) reißt den Horizont mit seiner integrativen Jurisprudenz (Towards an Integrative Jurisprudence. Politics, Morality, and Historic Concept of Law, 291–307) weit auf. Berman weist den Weg eines interdisziplinären Ansatzes, der die drei klassischen Rechtsschulen (historisch, positivistisch und naturrechtlich) in einer balancierten Einheit sieht. Für den Juristen weitet dieser Aufsatz den Blick von der Frage nach der Natur des Rechts zur Frage nach dem Wesen einer sich entwickelnden Rechtstradition überhaupt (307).
Der Begriff »Naturgesetz« kann als Ergebnis einer göttlichen Normsetzung verstanden werden (präskriptives Verständnis) oder metaphorisch als Entdeckung einer Regelmäßigkeit (deskriptives Verständnis). John C. Polkinghorne (The Charakter of Laws in Nature, 11–24) zeigt, wie im Einzelnen chaotisch unvorhersagbare Verfahrensläufe in der Masse doch mit statistischer Wahrscheinlichkeit einem vorhersagbaren Muster folgen, und unterscheidet damit von den »laws of nature« die »holistic laws of nature« (15). Polkinghorne kulminiert mit sechs allgemeinen Kennzeichen wissenschaftlicher Sicht, die bei aller Unsicherheit und Unschärfe im Spannungsfeld von Quantenphysik und klassischer Physik die vorfindliche Welt mit ihren Naturgesetzen als bestaunenswertes Wunder erscheinen lassen. Jörg Hüfner (Origins of the Concept of Laws of Nature, 25–36) geht ebenfalls davon aus, dass Naturgesetze nicht auf einen Gesetzgeber, sondern auf Ordnung hinweisen. Diese Ordnung sei mit Normen mit unterschiedlicher Dignität und Reichweite beschreibbar. Die Symmetrieprinzipien der Physik seien als naturgesetznormierend begreifbar (35). Ebenso setzt Argyris Nicolaidis an (The Laws of Nature and the Nature of Laws, 37–43) und unterscheidet strikte Gesetze (Mechanik), absolute plus relative Gesetze (Relativität) und universelle Gesetze und Muster, die freilich beobachterabhängige Resultate erzeugen (39). Er sieht Parallelen zwischen kosmologischen, biologischen Naturgesetzen, Grammatik und Recht, denn es ginge jeweils um generative Systeme, die mit endlichen Mitteln in evolutionärer Dynamik unendlichen Gebrauch machten (42). Gesetze erscheinen weniger als Bedingungen des Entstehens des Systems als post hoc Beschreibungen der begrenzten Stabilität des evolutionären Systemresultats.
Niels Henrik Gregersen untersucht in theologischer Perspektive Naturgesetze und Natureigenschaften (Laws of Nature and Natural Propensities in Theological Perspective, 82–111). Gregersen setzt voraus, dass es Naturgesetze unterschiedlicher Art und Güte gibt: präskriptiv oder deskriptiv, determinierend oder stochastisch, universell oder fachspezifisch. Er erkennt einen Konsens unter Materialisten, Christen und Buddhisten, wonach Naturgesetze unveränderliche und ihrer natürlichen Befolgung logisch vorauslau-fende Größen sind. Die Theologie habe eng verwoben mit den entstehenden Naturwissenschaften von einem Schöpfergott aus ge­dacht und formuliert. Angeregt von der typologischen Unterschei dung von drei Normtypen (David Hodgson hatte 2001 die Hy-pothese veröffentlicht, wonach Constraint, Empowerment und Guidance drei Klassifikationen der Naturgesetze darstellten) kommt Gregersen zu meta-wissenschaftlicher Sicht, die Theologie herausfordert und interpretiert (96 ff.). Christiane Tietz statuiert (Why should naturally given moral laws exist?, 355–371), dass Naturrecht seine kulturelle Abhängigkeit eher tarne, wo das Kulturrecht ehrlich zu seiner immer schon kulturierten Kontur stehe (369). Letzteres setze Autoritäts- und Sachargument auseinander, während Ersteres beides ineinanderschiebe. Dort wo Normbefolgung auf Akzeptanz fuße, sichert die Überzeugungskraft der Norm ihre Autorität. Vernunft überzeugt und bedürfe keines naturrechtlichen Rückgriffs. Tietz kommt dann – natürlich – zu der Frage, wie diese Überzeugung unter lauter emanzipierten und eigenständigen Individuen gefunden werden könne, und trifft auf den Kommunikationsprozess nach Habermas (371). Offen bleibt freilich, wie praktisch bei knappen Ressourcen unter den Bedingungen von Raum und Zeit dieser Prozess funktionieren kann. Wissen, methodisches Können und Zeit für den Diskussionsprozess stehen nicht beliebig zur Verfügung, ganz zu schweigen von der gleichermaßen ehrlichen Interessenzurückstellung jedes Einzelnen.
Patrick D. Miller widmet sich den Dimensionen des Rechts im fünften Buch Mose (That you may live, 137–157), dem Rechtsbuch par excellence (137). Die »tora« eröffne ein Feld zwischen Lehre und Politik, Recht und Katechetik. Recht entstamme aus einer konkreten Erfahrung einer Gemeinschaft in einem konkreten Kontext (149). Es kenne zentrale unveränderliche Normen (die zehn Gebote), die das Ziel eines gedeihlichen Lebens verfolgten. Dahinter stünde immer die lebendige Beziehung Gottes zu seinem Volk, die immer das Ziel des Weges jedes Einzelnen und der Gemeinschaft als Ganzer ist. Dieser Weg wird juridisch abgestuft beschreibbar und steht in der Spannung von unveränderlicher Grundnorm und veränderlicher Konkretion, von Fixierung und Offenheit. Die Normerfüllung zielt auf die Beziehung Gottes mit den Menschen, weshalb Gerechtigkeit kein abstrakt definierbarer Zustand, sondern vielmehr ein Beziehungsgeschehen ist. Das Recht wird gleichermaßen gefunden wie offenbart, es wird erlassen und frei ak­zeptiert (142). Der Bund Gottes mit den Menschen ist eine lebendige Rechts-Quelle. Ohne dieses Recht fällt die Welt auseinander und das Leben misslingt (157).
Diese Schlaglichter mögen locken, den Band insgesamt zu lesen und sich in die multipolare Welt eines Begriffes – des Naturgesetzes – in unterschiedlichen historisch nachvollziehbaren Traditionsströmen ziehen zu lassen, die facettenreichen Untiefen auszuloten, um am Ende mit geläuterten Fragestellungen entlassen zu werden.