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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1443–1446

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Witten, Ulrike

Titel/Untertitel:

Diakonisches Lernen an Biographien. Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 407 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 56. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-03884-8.

Rezensent:

Heinz Schmidt

Das Buch von Ulrike Witten ist als Dissertation an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig entstanden und wurde von dem emeritierten Leipziger Religionspädagogen Helmut Hanisch betreut, der sich als Promoter eines diakonisch-sozialen Lernens auf der Basis des Konzepts des »situated learning« innerhalb einer »community of practice« (Jane Lave, Etienne Wenger) einen Namen gemacht sowie mehrere empirische und theoretische Forschungen angeregt und begleitet hat.
Diese wissenschaftliche Herkunft erklärt, dass W. alle diakonisch Handelnden als eine vielfältige »tätige Gemeinschaft« (25) betrachtet, die sich u. a. in der Institution Diakonie konkretisiert, »durch ein Leitbild bzw. eine corporate identity geprägt ist« (ebd.) und daher auch eine entsprechende Kultur pflegt. Die für das diakonische Lernen konstitutiven Praxisphasen geben Gelegenheit, diese Gemeinschaft kennen zu lernen und gegebenenfalls auch hineinzuwachsen. Die praxisbegleitende Reflexion und der Unterricht ermöglichen dann eine Klärung kulturtragender Elemente der diakonischen Gemeinschaft. Konsequenterweise muss die Ge­schichte eine wesentliche Dimension diakonisch-sozialen Lernens sein, aus dem sich das »kommunikative Gedächtnis« diakonischer Mitarbeitender und das »kulturelle Gedächtnis der Erinnerungsgemeinschaft Diakonie« speist (40). Angesichts der Organisationsvielfalt der Diakonie, der Pluralität der Mitarbeitenden und deren äußerst unterschiedlicher Identifikationen mit einem Leitbild oder einer gewiss hier und da wahrnehmbaren Einrichtungskultur mag die Annahme einer Gemeinschaft mit einem gemeinsamen kommunikativen Gedächtnis allzu naiv erscheinen. W. zeigt aber durch ihre Kritik an der bisherigen Verwendung ge­schichtlicher Elemente im diakonischen Lernen sowie durch ihre eigene Auswahl und Vorstellung exemplarischer Biographien (Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale, Mutter Teresa), dass sie sowohl eine legitimatorische Geschichtsverwendung und überhöhende Hagiographie als auch die übliche Konzentration auf die Gründergestalten des 19. Jh.s ablehnt. Stattdessen empfiehlt sie plurale Identifikationsangebote. Sie wählte daher Personen, die in ihren geschichtlichen Kontexten und mit ihren problematischen Seiten die diakonische Dimension des christlichen Glaubens authentisch re­präsentieren können. Diakonisches Lernen soll so den »Orientierungsbedürfnissen« der Jugendlichen gerecht werden und gleichzeitig ein »kritisches Geschichtsbewusstsein« (96) fördern. Dazu gehört auch eine historisch-kritische Aufarbeitung von »Stereotypen diakonischen Handelns« (116 ff.) insbesondere im Blick auf Frauen.
Inhaltlich und quantitativ sind die drei biographischen Analysen von Elisabeth von Thüringen, Florence Nightingale und Mutter Teresa der Schwerpunkt des Buches. Etwa zwei Drittel des Textumfangs ist ihnen gewidmet. Gewählt wurden die drei Personen, weil sie »im kulturellen Gedächtnis der Diakonie und der Krankenpflege stark präsent« sind und weil sie »besonders häufig im Unterricht thematisiert werden« (Zitate: 130). Letzteres dürfte zutreffen, wenn man über die Grenzen des Religionsunterrichts hinaus alle Schulfächer in den Blick nimmt. Die Auswahl W.s gründet aber auch darin, dass die drei Personen in sehr unterschiedliche kulturelle Umwelten eingebunden sind, was im Unterricht kritisch reflektiert werden muss, zumal alle drei in der pädagogischen Rezeption oft erbaulich überhöht werden. Daher setzen die biographischen Darstellungen mit einer Analyse der Quellengrundlage und des Forschungsstandes ein, bevor die eigentliche Biographie von den Lebensphasen über das Wirken bis zur Nachgeschichte detailliert nachgezeichnet wird. Daran schließen sich didaktische Reflexionen an, die von grundlegenden Fragen des Stellenwerts von Biographien bis zu einer kritischen Rezeption im Kontext des diakonisch-sozialen Lernens und zu entsprechenden Umsetzungsimpulsen reichen. Sowohl im Bereich der Quellen und geschichtlichen Darstellungen als auch im didaktischen Teil kommt W. zu neuen Einsichten, etwa wenn sie bei Elisabeth von Thüringen den starken, lebensgestaltenden Einfluss ihres Beichtvaters Konrad von Marburg herausarbeitet, während dessen Summa Vitae stark von den Anforderungen des Kanonisierungsprozesses geprägt, d. h. nach dem Muster einer Heiligenvita gestaltet ist. Demgegenüber scheint der Libellus, der die Aussagen von zwei Hofdamen und zwei Hospitalschwestern zusammenfasst, den tatsächlichen Ereignissen eher zu entsprechen. Die späteren mittelalterlichen Biographien orientieren sich stärker an der Darstellungsweise Konrads bzw. verfolgen hagiographische Ziele.
Aus didaktischer Perspektive unterstreicht W. zum Beispiel, dass mit Elisabeth die im Mittelalter fast verschwundene Diakonie wieder zu gelebter Realität wurde, und insbesondere, dass sie – trotz aller Demut – nicht als niedriger Dienst, sondern als »Diakonie im Collin’schen Sinne als go between sowie in vermittelnder Tätigkeit, gerade auch zwischen den Ständen, zwischen arm und reich, krank und gesund« realisiert wurde (185), wobei Elisabeth sich, was die Gestalt der bedingungslosen Nachfolge Christi betrifft, an ihrem Vorbild Franziskus orientierte.
Auch die unterrichtlich vermittelten Bilder von Florence Nightingale und Mutter Teresa sind stark mythisch überformt. Nightingale war weder die Königin der Krankenpflege noch der »Engel der Verwundeten« im Krimkrieg, als die sie in die Ge­schichtsbücher eingegangen ist, sondern sie hat in der Kriegssituation zusammen mit Elizabeth Herbert das Konzept einer disziplinierten und organisierten Krankenpflege entwickelt und als Oberaufseherin der weiblichen Pflegekräfte in zwei Hospitälern in Skutari gegen viele Widerstände auch umgesetzt. Zum Aufbau des englischen Gesundheitswesens und zur Professionalisierung einer von kirchlichen Institutionen unabhängigen Krankenpflege hat Nightingale durch ihre Schriften wesentlich beigetragen, zu eigener pflegerischer Praxis war sie aufgrund ihres Gesundheitszustands nach dem Krimkrieg nicht mehr in der Lage. Aber ihre Beiträge zur Entwicklung der Fachlichkeit und eines Berufsethos sowie zur Organisationsentwicklung der Pflege werden heute auch in Kaiserswerth hervorgehoben, wo Nightingale sich vier Monate als Probeschwester ausbilden ließ.
Mutter Teresa ist als Verkörperung und Ikone christlicher Barmherzigkeit weltweit und auch unterrichtlich ständig präsent. Ihr Bild speist sich aus erbaulichen Sammlungen von Texten, die auch von ihr selbst stammen, und aus Biographien, die, obwohl von ihr autorisiert, Fehler und erbauliche Elemente enthalten. Dem stehen wenige kritische Texte gegenüber, die durch eine Infragestellung Mutter Teresas die katholische Kirche treffen wollen. Einzig die Publikation von Marianne Sammer gilt als unvoreingenommen und methodisch reflektiert. Daneben finden sich viele mediale Inszenierungen, die u. a. durch Kirche und Politik veranlasst waren. Angesichts dieser Situation liegt der Wert einer detaillierten quellenkritischen biographischen Darstellung, wie sie W. für beide Persönlichkeiten liefert, auf der Hand.
Wie nicht anders zu erwarten, ergeben sich aus differenzierten biographischen Darstellungen auch aspektreiche didaktische Perspektiven. Bei Florence Nightingale schlägt W. unter anderem vor, das Zusammenspiel humanistischer und religiöser Motivation sowie ihre Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit herauszustellen, was allerdings auch mit Unduldsamkeit und harten Urteilen gegen andere verbunden war. Außerdem sind ihre organisatorischen und administrativen Fertigkeiten sowie ihre wissenschaftlichen Interessen für die Diakonie von großer Bedeutung, weil sie diakonisches Handeln mit Organisation und Wissenschaft (hier Pflegewissenschaft und -ausbildung) verknüpfen. Allerdings waren damit auch eine Verdrängung persönlicher Probleme, vermutlich eines Burnout-Syndroms, und ein stures Festhalten an vermeintlich wissenschaftlichen Hypothesen verbunden. Zu vergleichbaren Ambivalenzen führen auch die didaktischen Reflexionen zu Mutter Teresa. Ihr unbedingtes Gottvertrauen, ihre Demut und Christushingabe verbunden mit Leiden und absoluter Armut könnten dazu verleiten, individuelle Besonderheiten und Erwartungen, besonders aber gesellschaftlich bedingte Lebensumstände oder Diskri minierungen geringzuschätzen. Mutter Teresa hat sich für die gesellschaftlichen Verhältnisse in Indien nicht interessiert. Aus theologisch-ethischer Perspektive bemerkt W. unter anderem, es sei die handlungsleitende Einstellung infrage zu stellen, »dass nicht das Ergebnis zählt, sondern mit wie viel Liebe gehandelt wurde« (338). Nicht nur die Absicht, auch die Konsequenzen seien zu bewerten.
Die diakoniedidaktische Reflexion aller drei biographischen Beispiele führt somit zur Einsicht, dass »Vorbilder« nicht affirmativ – mit dem Ziel einer entsprechenden Motivation und Handlungsorientierung – eingesetzt werden dürfen, sondern zu einer kritischen, ambivalenzsensiblen Wahrnehmung und zur Heranziehung unterschiedlicher Beurteilungsperspektiven veranlassen sollen. Dass solches den Lehrkräften eine aufwändige Vorbereitungsarbeit abverlangt, dürfte klar sein.
Das Schlusskapitel (8) resümiert den didaktischen Ertrag der biographischen Rekonstruktionen für das diakonische Lernen. Danach unterstützt eine Auseinandersetzung mit Biographien konstitutive Strukturelemente wie die fächerübergreifende Vernetzung sowie außerschulisches Lernen. Sie hilft wesentliche Ziele zu erreichen wie ein komplexes Diakonieverständnis, soziale Sensibilität, Verantwortungsübernahme und die Entwicklung eines entsprechenden Selbstkonzepts, verbunden mit spezifischen Kompetenzen sozialer Hilfeleistung. Außerdem trägt sie zur theologischen Profilierung des Diakoniebegriffs, zur moralischen Entwicklung und zur religiösen Urteilsbildung bei. Die Methoden des Lernens an Biographien verbinden historische Kritik mit exis­tenzieller Begegnung und kreativer Gestaltung mithilfe von Medien. Biographieorientiertes Lernen stößt allerdings auch an Grenzen und enthält Risiken wie auch jedes andere Identifikationsangebot. Daher sind sorgfältige und kritische Analysen solcher Angebote, wie sie W. an den drei Beispielen durchgeführt hat, ebenso notwendig wie eine aufmerksame Beobachtung des Rezeptionsverhaltens der Lernenden. Alle diese Aspekte sind von W. unter Rückbezug ihrer Analysen und konzeptionellen Überlegungen im Einzelnen erläutert und mit den Biographien verknüpft. So erreicht das Buch trotz seiner sehr detaillierten und daher umfänglichen Ausführungen ein hohes Maß an Kohärenz, was die Plausibilität seiner Hauptthese, der zentralen Relevanz einer kritischen Auseinandersetzung mit Biographien, insbesondere von Frauen in der Diakonie, zugute kommt. Die Verankerung des Lernens an Biographien in den auf tätigen Gemeinschaften rekurrierenden Konzepten des situierten Lernens sowie des kulturellen Gedächtnisses, die den Forschungs- und Erkenntnisprozess W.s widerspiegelt, tritt demgegenüber in den Hintergrund, was angesichts der Pluralität organisierter Diakonie, in der diakonische Gemeinschaften nur einen kleinen Bruchteil ausmachen, nicht zu bedauern ist. Auch hochkomplexe Organisationsverbünde wie die Diakonie, die kein kohärentes und ausbalanciertes kulturelles Gedächtnis mehr haben, brauchen Leitfiguren, von deren Engagement, Grenzen und Scheitern Impulse zur Motivation, Reflexion und Kritik ausgehen.
So ist das Buch nicht nur Lehrkräften, sondern allen diakonisch Engagierten zu empfehlen, die zu intensiver Lektüre bereit sind. Die Freude daran wird nur durch einige Druckfehler und sprachliche Unkorrektheiten getrübt, die einer kompetenten Lektorin aufgefallen wären. Doch welcher Verlag leistet sich noch einen derartigen Luxus?