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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1442–1443

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lippelt, Peter

Titel/Untertitel:

Postulierter Pragmatismus. Studien zur Theorie und Praxis evangelischer Predigt in der DDR (1949–1989).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 439 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03895-4.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Als jemand, der von 1949 bis 1989 fast an jedem Sonn- und Feiertag in der DDR entweder eine Predigt hörte oder selber predigte, griff ich interessiert zu diesem Buch und fand die Lektüre lohnend. Peter Lippelt, Jahrgang 1969, ist Pfarrer in der Altmark und wurde mit dieser von Klaus Raschzok betreuten Arbeit in Neuendettelsau promoviert. Die Untersuchung ist klar gegliedert. Auf die üblichen einleitenden Hinweise folgen drei Hauptteile, in denen der histo-rische Kontext (20–151), die evangelische Predigtlehre in der DDR (152–251) und die Predigtpraxis anhand ausgewählter Beispiele (252–323) dargestellt werden. Abschließend wird das Ergebnis zu­sammengefasst. Der Anhang enthält u. a. die zitierten Predigten im vollen Wortlaut.
Die konstitutive Bedeutung der homiletischen Situation kommt darin zur Geltung, dass mehr als ein Drittel des Buches dem historischen Kontext gewidmet ist. Angesichts der vorliegenden, vom Vf. umsichtig ausgewerteten Literatur zur Zeitgeschichte wären einige Kürzungen möglich gewesen. Andererseits ergibt sich ein guter Überblick über die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Situation, die der Theorie und Praxis der Predigt vorgegeben waren. »Situation« kann nach L. »als konkrete Umwelt be­schrieben werden, in der sich bestimmte Lebensprozesse vollziehen« (119). Beim Erfassen der Situation geht es weniger um eine allgemeine Analyse als vielmehr um die Praktikabilität für die tat sächliche Gemeinde, was L. mit »postuliertem Pragmatismus« meint. Für die theore-tische Reflexion ergibt sich das methodisch schwierige Problem der Unterschiede zwischen sozialer und individueller Situation.
Im Kapitel über die evangelische Predigtlehre in der DDR stellt L. zunächst zutreffend fest, dass die theoretischen Ansätze gesamtdeutsch bis in die 60er Jahre austauschbar waren. Sein Interesse gilt den Propria der Homiletik in der DDR. Dabei berücksichtigt er die gravierenden Hindernisse, die sich mit der Zensur in der DDR ergaben. Problematisch ist die Überschrift »Traditionelle Ansätze«, mit der L. die Lehrbücher von A. D. Müller, O. Haendler und E. Hertzsch charakterisiert, weil die bei diesen Autoren vorhandenen innovativen Impulse damit nicht zu würdigen sind. Haendlers Predigtbuch erschien nicht in der DDR, fand aber gesamtdeutsch kontroverse Beachtung. Als »homiletische Einzelkonzeptionen« stellt L. Publikationen von H. Urner, A. Schönherr, G. Voigt, E. Altmann, J. Hempel, E. Winkler und K.-P. Hertzsch vor. Diese unterschiedlichen und weithin vergessenen Veröffentlichungen werden sachlich und wohlwollend referiert. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Ernst Lerle, z. B. der »Grundriß der empirischen Homiletik« (1975). Ausführlich würdigt L. Friedrich Winters Kapitel »Die Predigt« im HPT II (1974). Kurz erwähnt er das »Handbuch der Predigt«, das 1990 erschien, aber erarbeitet wurde, als noch niemand das Ende der DDR erahnte. So erklärt sich, was L. verwundert: dass im geschichtlichen Kapitel die Entwicklung des homiletischen Nachdenkens in der DDR nicht beschrieben ist. Umso mehr ist zu begrüßen, dass L. dazu einen Beitrag leistet, der Ende der 80er Jahre noch nicht möglich war.
Der schwierigste Teil der Aufgabe, die L. sich vornahm, bestand in der Sichtung und einer repräsentativen Auswahl der in der DDR gehaltenen evangelischen Predigten. Ein wichtiges Kriterium bestand darin, dass es sich um tatsächlich gehaltene Predigten handelt. Angesichts der Zensur geht L. bei Predigten, die in DDR-Verlagen erschienen, mit Recht davon aus, dass dieses Kriterium nur eingeschränkt gilt. Er konzentriert sich deshalb auf landeskirchliches und privates Archivmaterial. Besonders die von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen sowie der Evangelischen Kirchenprovinz Sachsen herausgegebenen hektographierten Lesepredigten zieht er heran, da sie aus der Praxis für die Praxis entstanden und nicht der Zensur unterlagen. L. bescheinigt diesen Predigten »eine große Nähe zum tatsächlichen Zeitgeschehen« (262). Im Vorfeld geführte Interviews mit Zeitzeugen, Predigerinnen und Predigern flossen in die Auswertung des Materials ein, ohne explizit zitiert zu werden. Aus der Fülle der Quellen wählte L. zunächst 250 Predigten aus und reduzierte diesen Pool weiter auf ca. 30 Modellpredigten, die der weiteren Untersuchung zugrunde lagen.
Das Ergebnis fasst L. mit der problematischen Formulierung »Postulierter Pragmatismus« zusammen. Gemeint ist ein starkes Interesse an Nützlichkeit und Praktikabilität, also Bedeutung für das Leben in der konkreten Situation. »Der Pragmatismus will als Eröffnung und Akzeptanz vorgefundener Freiräume begriffen werden, die den Handlungs- und Verhaltensanweisungen eine Möglichkeit der Verwirklichung anbietet« (273). Ob diese positive Intention als Pragmatismus angemessen zu bezeichnen ist, muss gefragt werden. L. vermutet, »dass der Postulierte Pragmatismus in der Verkündigungspraxis der DDR dazu geführt hat, dass aus der Notwendigkeit der Situation regressiv zur eigenen Entwicklung reagiert wurde« (274). Leider führt er dazu keine Beispiele an, sondern er verweist auf die Methode der Kontextanalogie, »die dem biblischen Text eine entsprechende Situation und Wirklichkeit analog zuordnete« (275). Gemeint ist wohl, dass der Situationsbezug auf Kosten der Textauslegung ging, denn L. findet in den Predigten häufig eine weltanschauliche bzw. ideologisch-apologetische Argumentation, »in deren Abfolge die biblischen Texte einen instrumentalisierenden Gebrauch aufweisen« (ebd.). Demnach hätten die Predigten oft weniger den Text als vielmehr die Situation erschlossen. Hier ist zu fragen, ob es sich um ein spezifisches Problem der Predigt in der DDR oder vielmehr um eine generelle homiletische Problematik handelt.
L. konstatiert, dass die homiletische Gesamtsituation sich in der DDR relativ homogen darstellte. Es entsprach dem gesellschaftlichen Kontext, dass in der Endphase der DDR die Bedeutung politischer Themen in den Predigten zunahm. Für 1989/90 bezieht sich L. auf K.-H. Kandlers Untersuchung »Situationsbezogene Verkündigung« (1996). Laut Untertitel legt der Autor Studien zur Theorie und Praxis evangelischer Predigt in der DDR vor. Eine umfassende oder gar abschließende Würdigung kann nicht das Ziel einer Doktorarbeit sein. Anregungen zu weiteren Untersuchungen ergeben sich aus manchen Thesen, die zur Überprüfung herausfordern. So charakterisiert L. die Predigten »im Kontext der DDR an vielen Stellen als konsequent ethische Predigt« (328) und bezeichnet ihre apologetischen und rechtfertigenden Züge als signifikant. Inwiefern seine Beobachtungen durch weitere Forschungen bestätigt oder modifiziert werden, bleibt abzuwarten. Dass L. dafür Impulse gab, verdient Anerkennung.