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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1387–1389

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Blumhardt, Johann Christoph

Titel/Untertitel:

Krankheit und Heilung an Leib und Seele. Auszüge aus Briefen, Tagebüchern und Schriften. Hrsg. v. D. Ising.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 266 S. = Edition Pietismustexte, 6. Kart. EUR 14,80. ISBN 978-3-374-03768-1.

Rezensent:

Veronika Albrecht-Birkner

Der hier vorzustellende sechste Band der Reihe Edition Pietismustexte, in der wissenschaftlich erschlossene Quellentexte auch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, bietet insgesamt 68 Texte zumeist von dem, teils aber auch über den Württembergischen Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (1805–1880). Neben vier Tagebuchauszügen handelt es sich vor allem um Briefe aus den 1830er bis 1870er Jahren mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den 1840er und 1850er Jahren. Zugänge bieten außer dem »Verzeichnis der ausgewählten Quellen« (6–8) und dem Nachwort (229–260) ein Bibelstellen- und ein Personenregister.
Mit Dieter Ising zeichnet als Herausgeber des Bandes der Blumhardt-Kenner verantwortlich. Bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter im landeskirchlichen Archiv Stuttgart, in dessen Bestände der Blumhardt-Nachlass von der Württembergischen Landesbibliothek 2010 übergegangen ist, hat er in den Jahren 1993–2001 in sieben Bänden Blumhardts Briefe ediert, war aber 1979 auch schon an der Edition von Blumhardts Schriften beteiligt. Aus diesen Teilen der Blumhardtausgabe stammen sämtliche, in der vorliegenden Edition zumeist gekürzt präsentierte, Quellentexte. Die Auswahl der Texte unter dem für Blumhardt zentralen Motiv »Krankheit und Heilung an Leib und Seele« ist als ausgesprochen gelungen zu bezeichnen. Die gebotenen Quellenauszüge bieten einen spannenden Einblick in Blumhardts Entwicklung vom spektakulären Exorzisten vor allem im Fall der Gottliebin Dittus in den 1840er Jahren zum Leiter des Königlich Württembergischen Bades für die Oberen Stände als christlicher Kureinrichtung in Bad Boll ab den 1850er Jahren. Die Textwiedergabe ist zuverlässig.
Sehr sorgfältig und aufschlussreich ist im Wesentlichen auch der Kommentar, wenngleich die durchgängige Verwendung des Präsens auch dann, wenn Vorgänge in der Vergangenheit erläutert werden, teils irritiert. Vielfach werden zu den erwähnten Personen Biogramme geboten, Sachverhalte zumeist ausführlich und unter Heranziehung von Zitaten aus weiteren Schriften und Briefen erläutert, Anspielungen auf Bibelstellen nachgewiesen.
Mitunter gehen weiterführende Erläuterungen etwas über den Rahmen einer Kommentierung hinaus (vgl. z. B. Anm. 231 und 238). Dies betrifft zum Teil auch ausführliche Angaben zu Personen, die im Text gar nicht vorkommen (vgl. z. B. Anm. 207 und 252). Auf der anderen Seite bleiben etliche im Text erwähnte Personen, insbesondere Frauen, ohne erläuternde Fußnote. Es ist anzunehmen, dass zu diesen Personen keine Informationen vorliegen, was allerdings nicht erklärt wird. Mehrfach tauchen diese nur im Text zu findenden Nennungen dann auch nicht im Register auf. Dies betrifft u. a. die Erstnennung von Blumhardts Ehefrau in dessen Brief an seine Schwiegereltern Maria und Karl Köllner vom 8.7.1843: »die gute Doris« (29) – eigentlich Dorothea geb. Köllner – erhält keine Fußnote und nirgendwo ein Biogramm, obwohl das »Selbstverständnis des Ehepaares Blumhardt« ein, so Ising, so besonderes war, dass es »die Gendermodelle des 19. Jahrhunderts auf interessante Weise ergänzen« könne (65, Anm. 113). Der auf S. 151 als Adressat genannte »Pastor Pieper [?] in Wulkow bei […?] Königreich Preußen« ist vermutlich als Ernst Ludwig Pipparth zu identifizieren, der von 1848 bis 1854 Pfarrer in Wulkow bei Ruppin (heute Ortsteil von Neuruppin) war (vgl. Pfarrerbuch Brandenburg Bd. 1, 159). Bei Mehrfachnennungen von Personen wird nur gelegentlich auf eine Fußnote mit Biogramm verwiesen, weshalb man nicht nachgewiesene Identifikationen in der Regel über das Register suchen muss.
An einigen Stellen wären im Blick auf den zu erwartenden Rezipientenkreis weitere Wort- bzw. Sacherklärungen hilfreich gewesen (z. B. 17, »Konvulsionen«, 78 »Chaise«, 162 »Schacherjuden«). Im Brief Blumhardts an Tilmann Siebel vom 30.3.1872 (210) fehlen Nachweise biblischer Anspielungen (Lk 21,29–31 par; 2Thess 2,3 f.). Die im Brief Blumhardts an Christian Gottlob Barth vom 9.8.1845 zu findende Formulierung »ich schlug durchs Loos für den Bußtag etwas auf« (»Es war das Wort der Hanna 1. Sam. 2 – der 15. Januar […]«, s. 83) ist mit dem Verweis darauf, dass Blumhardt die Herrnhuter Losungen benutzte (Anm. 148), nicht erklärt. Offensichtlich loste Blumhardt selbst einen Bibeltext aus, was Erläuterungen zur Lospraxis in Pietismus und Erweckungsbewegung notwendig macht.
Tendenziell spiegelt sich in der Kommentierung ein immanenter Zug, der offensichtlich mit den Grundanliegen zu tun hat, die der Herausgeber mit der Edition verbindet: »Der Leser ist eingeladen, in ein Gespräch mit Blumhardt einzutreten, kritisch zu fragen, zuzuhören, sich der Grenzen des Anderen und auch der eigenen bewusst zu werden.« (Klappentext) Hinter diesen seelsorgerlichen Formulierungen verbirgt sich mehr: Ising möchte »die vorliegende Darstellung« »[n]icht nur als Plädoyer für eine sensible Wahrnehmung von Gebetsheilungen […] gelesen sehen« (257), d. h. für »ein respektvolles Zuhören […], wenn Menschen auch im 21. Jahrhundert die Heilung seelischer und körperlicher Leiden beschreiben als Folge persönlicher Gebetserfahrung« (256). Er möchte das Thema Gebetsheilungen auch in der Pietismusforschung intensiver be­rücksichtigt wissen: »Die Möttlinger und Bad Boller Ereignisse« sollen nicht »in einer Schublade abgelegt« und auf diese Weise »ihrer Brisanz beraubt« werden (259).
So tritt der Herausgeber in gewisser Weise als Anwalt Blumhardts und aller Befürworter von Gebetsheilungen im »Horizont des Unerklärlichen« (255) nicht nur in der Vergangenheit auf. In manchen Kommentaren, in denen Ising die Blumhardtschen Auffassungen und Praxen, abgesehen von dessen Dämonologie (vgl. 235–237), mit Blumhardt als legitime christliche Positionen gegen jegliche Art magischer und spiritistischer Praktiken (zentral hierzu 34, Anm. 56–58) abzugrenzen und damit zu verteidigen sucht, scheint dieses Anliegen hindurch. Mitunter werden Äußerungen Blumhardts ganz immanent kommentiert, z. B. seine »Ahnungen« vom März 1843 mit später tatsächlich eintretenden Ereignissen be­legt (vgl. 25, Anm. 37 f.). Zur Tendenz zu diesem undistanzierten Zugang gehört auch die unkritische Heranziehung der Blumhardt-Biographie von Friedrich Zündel als historische Quelle.
Anstöße für die Erforschung der Erweckungsbewegungen des 19. Jh.s bietet die Edition allemal. Der Herausgeber deutet im Nachwort Traditionen an, in denen Blumhardt mit seinen Gebetsheilungen zu verstehen sein könnte, bleibt auch dabei aber immanent, wenn er dessen explizite Abgrenzungen von Johann Joseph Gassner, Justinus Kerner, Dorothea Trudel und den Irwingianern faktisch auch für die Deutung übernimmt (258 f.). Für eine historiographische Einordnung Blumhardts bedarf es offensichtlich weitergehender strukturierender Überlegungen – insbesondere zu den Schnittmengen zwischen Erweckungsbewegungen und christlichem Spiritismus, der damit verbundenen Tendenz zu dualistischen Weltdeutungen sowie der Dominanz alttestamentlich orientierter Buß- und Straftheo-logien. Blumhardts »Jesus-ist-Sieger«-Theologie (vgl. vor allem 43, Anm. 69) hat hier ihren Ort – sie als »Theologie der Hoffnung« zu klassifizieren (242 und Klappentext), erscheint euphemistisch und verwischt die Unterschiede zum Ansatz seines Sohnes Christoph wie auch Jürgen Moltmanns. Dass Blumhardt sich mit »Pietismus« identifiziert hätte, geht aus den hier gebotenen Texten nicht hervor. Im Nachwort wird aber ein zeitgenössisches Beispiel für eine dezidiert pejorative Verwendung des Begriffs geboten (253 f.). Strukturell legen sich z. B. angesichts der Entwicklung von einer charismatischen zu einer institutionellen Wirkungsphase oder der Bad Bollschen Wirtschaftswunder (vgl. z. B. 186) Vergleiche zu August Hermann Francke und den Glauchaer Anstalten nahe.