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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1377–1379

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hvalvik, Reidar, and Karl Olav Sandnes [Eds.]

Titel/Untertitel:

Early Christian Prayer and Identity Formation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. IX, 421 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 336. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-153520-8.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

Reidar Hvalvik und Karl Olav Sandnes beleuchten in ihrem Sammelband aus unterschiedlichen Perspektiven die Verbindung von antikem christlichen Gebet und der Formierung von Identität bei den Betenden. Eine instruktive Einleitung der Herausgeber (1–12) steht den 14 englischsprachigen Fachbeiträgen mehrheitlich skandinavischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler voran. Das Gros der Artikel ist hervorgegangen aus zwei Workshops der neutestamentlichen Abteilung der Norwegian School of Theology in Oslo (2011 und 2012).
In der neutestamentlichen Theologie hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das christliche Gebet keinen erratischen Block bildet, sondern einbezogen ist in eine Wechselbeziehung von Betenden und Angebetetem. So liegt es nahe, insbesondere nach der Rolle des Gebets bei der Formierung der Identität der Gläubigen und ihrer Gemeinden im frühen Christentum zu fragen.
Die Herausgeber legen ihre Aufsatzsammlung bewusst weiter an als A. Gerhards/A. Doeker/P. Ebenbauer, die sich bereits in einer 2002 erschienenen Studie der Thematik angenommen hatten (»Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum«). Hvalvik und Sandnes verweisen auf zwei wesentliche Unterschiede, die ihren Neuansatz rechtfertigen. Zum einen ziehen sie gnostische und römisch-hellenistische Beiträge hinzu, zum anderen be­schränken sie sich – anders als der genannte Aufsatzband – nicht auf institutionalisiertes Beten.
Mikael Tellbes Analyse »Identity and Prayer« (13–34) eröffnet programmatisch die Reihe der Fachbeiträge. T. erschließt grundlegende Erkenntnisse der Sozialwissenschaft für das Verständnis des Gebetes und betender Gruppen. Rituale und Gebet seien Ausdruck von Identität und schafften Realität. Texten komme für die Formierung christlicher Gemeinschaften eine wesentliche Funktion zu.
Larry Hurtado (35–56) widmet sich der Rolle Jesu in den ersten christlichen Gebeten und markiert sie als analogielos in der Tradition des zweiten Tempels und seines Umfeldes. Jesu herausgehobene Position habe maßgeblich zur Ausbildung einer religiösen Identität beigetragen.
Reidar Hvalvik (57–90) stellt nonverbale Gebetsaspekte in den Mittelpunkt seiner Analyse und identifiziert fünf Identität stiftende Gesten und Merkmale christlichen Betens (Ort, Richtung, Zeit, Positionierung, Gesten).
Geir Otto Holmas (91–113) untersucht für das Matthäus- und das Lukasevangelium die Identität stiftenden Funktionen des Vaterunsers und des Tempels als Haus des Gebetes. Holmas geht es um deren Bedeutung in Kontinuität und Abgrenzung zum jüdischen Erbe und zu Israel. Ihm zufolge vertreten die beiden Evangelisten im Umgang mit den genannten Themen divergente Ansätze.
In seinem zweiten Beitrag für den Sammelband konzentriert sich Mikael Tellbe (115–135) auf den Epheserbrief. Ihm zufolge schreibt der Autor aus einem priesterlichen Selbstverständnis heraus. Indem er seine Theologie gleichsam betet, träten der Autor und der Adressat durch Jesus in eine Beziehung zu Gott. Geeint in Christus hätten die Gläubigen ihre soziale Identität als Wohnort Gottes: Sie seien Gottes Tempel.
Anna Rebecca Solevag (137–159) vergleicht Gebet und Identität in den Pastoralbriefen mit deren Funktion in der Apostelgeschichte. Solevag betont die Unangemessenheit, allgemein von »den Christen« zu reden, und plädiert stattdessen für eine Differenzierung bezogen auf Gender und Status (Sklaven, Freie, freie Frauen). Im Gebet erkennt sie einen einigenden Identitätsmarker.
Ole Jakob Filtvedt (161–182) nimmt den Hebräerbrief in den Blick und versteht das darin präsentierte Beten als Modus des Lernens. Jesu Leiden zeige den Gläubigen, dass sie auf dem rechten Weg sind. Jesu Gebet sei Teil der Passion. Somit erweise sich im Gebet, was Nachfolge Christi heißt. Filtvedt sieht im Erlösungswerk Jesu die Basis für das Gebet und seine Identität stiftende Funktion.
Die Offenbarung des Johannes ist Gegenstand der Analyse Craig R. Koesters (183–207). Das Gebet präge das Selbstverständnis der betenden Gemeinde, die ihren Platz in der Israel-Tradition einnehme. Zugleich würden traditionelle griechisch-römische Verehrungsmotive auf Christus und den Gottesdienst bezogen. Gott akzeptiere solche Ehrungen, er wolle jedoch nicht, dass andere dergestalt geehrt werden. Die Gläubigen seien gemäß den Beschreibungen der Offenbarung sowohl Opfer der ungerechten Welt als auch deren Zeugen, denen das Gebet zur Stärkung diene. Durch das geschlachtete Lamm seien sie ermächtigt, Gott zu dienen und direkt zu ihm zu beten. Mit dem Amen identifizierten sie sich mit dem Gebet des Geistes und der Braut.
Karl Olav Sandnes (209–232) versteht das Vaterunser als Ausweis der Jüngerschaft. Sandnes führt aus, dass nach Tertullian und Cyprian das Sprechen des Vaterunsers das Privileg der Getauften sei. Ihre Einheit und Identität werde bereits im Neuen Testament vorweggenommen – wenn auch nicht expressis verbis. Die Einführung des »unser« im Herrengebet habe die Abgrenzung von anderen bewirkt.
Der nach Abschluss seiner Arbeit an dem Beitrag verstorbene Hans Kvalbein (233–266) beschreibt die enge Verbindung von Vaterunser und Eucharistiegebet in der Didache. Die Didache bezeuge eine Gemeinde, die sich sowohl von Heiden als auch von Juden abgrenze. Nach Kvalbeins Auffassung hätten die Anrede (»unser Vater«) und das kommende Gottesreich kaum jüdische Äquivalente. Die Didache informiere über religiöse Praktiken, die für die religiöse Identität der Gemeinde wichtig seien.
Der Kirchenvater Augustinus verstehe, so Reidar Aasgard (267–290), das Leben der Gläubigen als einen Prozess der gottgeleiteten Persönlichkeitsformung. Entscheidend sei ein Gleichklang mit Gott, sich selbst und den Gläubigen. Bestimmte Gebetspraktiken seien dabei nicht nötig, hätten aber eine pädagogische Wirkung.
Anastasia Maravela (291–323) stellt christliche Papyri des 3.–5. Jh.s aus Ägypten in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Darin kenntliche christliche Identität entstehe durch die Interaktion mit dem Alten Testament und mit Elementen der Jesusgeschichte. Auch wenn die Gebete nicht unmittelbar Identität beschrieben, so fla-ckere darin doch das eigene Selbstverständnis auf.
Niclas Förster (325–342) beschreibt das gnostische Ritual der Apolytrosis. Das Gebet sei Teil dieses Rituals, das die Erlösung direkt nach dem Tod (nicht erst zum Weltende) bewirken solle. Dessen Kenntnis stärke die Idee einer mit dem Bischof vereinten Elite und sei ein besonderes Merkmal marcosianischer Identität.
Der abschließende Beitrag von Glenn Wehus (343–369) wendet sich den philosophischen Schriften Epiktets zu und verweist auf die enge Verknüpfung von stoischer Identität und Gebet. Gebet wird verstanden als Dauerkommunikation und Lehrgespräch mit der Universalvernunft als göttlicher Lehrerin. Inhalt dieses Lehrgesprächs sei allein das Rationale und auf die Moral Bezogene. In ihrem Versuch einer Synthese lassen Hvalvik und Sandnes die Einzelarbeiten Revue passieren (371–381) und schließen mit der Beurteilung der christlichen Identität als einem Prozess, der in kontinuierlichem Wandel begriffen sei (381). Den Herausgebern ist zu danken für die Sammlung vielfältiger Schlaglichter auf den Prozess antiker christlicher Identitätsbildung im Kontext des Gebetes.
Bibliographien finden sich jeweils am Ende der Einzelbeiträge. Der Band als Ganzer ist durch Quellen-, Autoren- und Sachregister gut erschlossen.