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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1370–1373

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Uta

Titel/Untertitel:

Zukunftsvorstellungen in Jesaja 49–55. Eine textpragmatische Untersuchung von Kommunikation und Bildwelt.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2013. 391 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 138. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-7887-2717-8.

Rezensent:

Burkard M. Zapff

Mit Jes 49–55 beschäftigt sich Uta Schmidt in ihrer an der Universität Gießen verfassten Habilitationsschrift. Bekanntlich gehört dieser Abschnitt zum zweiten Teil des Jesajabuches (»Deuterojesaja«). Geht es in Jes 40–48 vor allem um die Heimkehr der Exilierten nach Zion, so widmet sich Jes 49–55 der Wiederherstellung Zions und der Gestalt des Gottesknechtes in Jes 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12. Während nun in der jüngeren deutschsprachigen Forschung u. a. die Frage nach der Entstehung »Deuterojesajas« im Fokus steht, so ist der methodische Ansatz S.s weitgehend einer synchronen Exegese verpflichtet. Ihr Interesse liegt insbesondere auf den verschiedenen Zukunftsvorstellungen, wie sie sich in Jes 49–55 widerspiegeln (3). Dabei verbindet sie diese Fragestellung mit der Frage nach der alttestamentlichen Vorstellung von Zeit überhaupt. Ausgehend von der bisherigen Forschung kommt sie zum Ergebnis, dass alle Zeit im Alten Testament »gefüllte Zeit« ist, und zwar in dem Sinn, dass Zeit im Alten Testament nicht »zu trennen ist von dem, was in ihr geschieht« (15).
Hinsichtlich des in Jes 49–55 zu bearbeitenden Textmaterials handelt es sich zum überwiegenden Teil um Kommunikation, während nur selten narrative Texte anzutreffen sind. Dabei wirke die Fülle der verarbeiteten Bilder wie ein »Gobelin-Teppich« (53), so dass man – dies ist wohl als kleiner Seitenhieb auf eine literar-, redaktions- und formkritisch vorgehende Exegese gedacht – der Schönheit nicht auf die Spur kommt, wenn man ihn auseinandernimmt und die einzelnen Fäden nach Farbe oder Material sortiert (54). Dementsprechend hält S. eine »linguistische Pragmatik«, die »den besonderen Kommunikationscharakter der Texte auf theoretischer Ebene reflektiert«, für einen geeigneten Zugang (56). Dazu gehören die Ebenen der Rede (56 ff.), das »Wie« (60–84) und schließlich das »Was« (84–90) einer Äußerung, also die Zukunftsbilder, die Jes 49–55 entwickelt.
Eine »historische Kontextualisierung« hingegen macht S. nicht zum Gegenstand ihrer Studie, sondern orientiert sich diesbezüglich an dem von U. Berges entwickelten redaktionsgeschichtlichen Modell von Jes 40–55 (72 f.). Das Verhältnis eines literaturhistorischen Ansatzes und der von S. durchgeführten »linguistischen Pragmatik« bleibt dadurch relativ unbestimmt.
In Hauptteil der Arbeit (B) analysiert S. sämtliche Texte in Jes 49–55 (91–300). Neben den üblichen exegetischen Methodenschrit-ten (Übersetzung, Textkritik, Gliederung) folgt eine ausführliche Analyse der Kommunikationsstruktur des Textes, die in die Frage nach seiner kommunikativen Funktion einmündet. In Jes 49,1–6 be­stimmt S. diese beispielsweise in der Form, »dass der Text berichtenden Charakter hat, insofern als der Getreue [so bezeichnet S. den Gottesknecht] hier den Adressatn den Umbruch, der ›jetzt‹ eben ge­schehen ist, und die Möglichkeiten, die sich aus seiner Beziehung zu Jhwh dadurch entwickeln, mitteilt.« Daraus ergibt sich »eine Anweisung für die Rezipienten, sich mit dem, was sie hören, auseinanderzusetzen […]« (98). Dem folgt ein Abschnitt über die »theologischen Muster« des Textes. Dieser widmet sich den inhaltlichen Aspekten der Kommunikation. Im Hinblick auf Jes 49,1–6 ist dies der Getreue JHWHs, der in verschiedener »Weise zu anderen Figuren alttestamentlicher Texte in Beziehung gesetzt [wird], deren Leben ebenfalls von Anfang an durch die Nähe zu Jhwh qualifiziert war« (103). Die viel diskutierte Frage, ob der Knecht aufgrund von Jes 49,3 kollektiv (als Israel) oder individuell zu verstehen sei, beantwor-tet S. wohl mit Recht dahingehend, dass er beides sei: »ihr Gegenüber und ein Teil von ihnen« (104). In einem vierten Arbeitsgang richtet S. den Blick auf die jeweilige Zeitstruktur des Textes. Die im Text gesetzten Zeitangaben werden dabei »auch qualitativ« verstanden, was sich am Leben des Getreuen JHWHs bestätigt, insofern dieser von Anfang an »von seiner Beziehung zu Jhwh bestimmt ist« (109). Durch den erneuten Auftrag und das veränderte Handeln des Getreuen in V. 6 bekommt die Zeit, die jetzt anbricht, »als Handlungszeit neue Qualität« (109). Schließlich fragt S. nach der Zukunft in dem jeweils untersuchten Text. In Bezug auf Jes 49,1–13 wird in den Versen 1–6 »ein Umbruch und eine Veränderung verkündet« und in den Versen 7–13 »eine neue Zukunftszeit ausgemalt« (111).
Am Ende der Textanalyse steht unter Teil C eine Auswertung, die die Zukunft in Jes 49–55 zu beschreiben sucht (301–361). S. ge­langt zu folgenden Ergebnissen:
A) Hinsichtlich der »Zukunftskommunikation«:
1. Zukunft beginnt jetzt, und zwar im Moment des Sprechens und löst damit frühere leidvolle Zeiten ab (302).
2. »Die Zukunftszeit ›passiert‹ den Adressaten nicht einfach, sondern sie werden involviert, werden (wieder) handlungsfähig und somit Teil des angekündigten Geschehens« (303).
3. Die Zukunftszeit als Ziel der bisherigen Zeiten ist durch JHWHs Handeln bestimmt (303).
4. Die verwendeten Bilder »stehen für das Ziel, auf das die Angesprochenen hoffen sollen« (304).
5. Die Qualität der Zukunftszeit wird durch םלוע präzisiert (305). Dabei geht es nicht um eine endlose Zeitdauer im Sinne »von Sekunde nach Sekunde«, sondern vielmehr »um die Beständigkeit, um eine Zeit, die nicht ›abbruchgefährdet‹ ist« (305).
6. »Anders als im Rahmen der mathematisch-kontinuierlichen, linearen Zeitvorstellung, in der einzelne Zeiten chronologisch aufeinander folgen müssen, ist es im Rahmen der Handlungs- und Ereigniszeit vorstellbar, dass verschiedene Zeiten nebeneinander existieren« (306), insofern sich eine Diskrepanz auftut zwischen eigener Erfahrung und Gottes Zusage. Hier spielt der Getreue eine Art Modell, als er diesen Widerspruch für sich selbst bereits aufgelöst hat (307).
7. Eines der großen Themen in diesem Zusammenhang ist es, die »Zuverlässigkeit Jhwhs« herauszustellen (307). Dabei werden vergangene Taten JHWHs argumentativ mit der Redegegenwart verknüpft, dass folglich auch JHWHs Handeln in der Gegenwart unbestritten geschieht (308). Auch hier spielt der Getreue eine wichtige Rolle, insofern seine lebenslange Berufung durch JHWH ihm Legitimation und Autorität verleiht (ebd.).
B) Hinsichtlich der theologischer Muster und Zukunftsqualitäten:
1. »Für die Qualität dieser Zukunftszeit ist Jhwhs Handeln entscheidend«, insbesondere in Form seiner Zuwendung (313).
2. Zentral in der Beschreibung des Handeln JHWHs sind die Verben םחנ und םחר ,לאג (316), leiten sie doch »eine Veränderung ein (und) verleihen der Zukunftszeit, die darauf folgt, ihre Qualität« (ebd.).
3. »Recht und Gerechtigkeit, Frieden, Weisung und Rettung bzw. Hilfe Jhwhs zeichnen in ihrer Gesamtheit die Zukunftszeit aus, die in den Texten angekündigt wird« (319).
4. Das Zukunftshandeln JHWHs »wirkt sich auch auf die gegenwärtige Situation der Angesprochenen und ihr Verhältnis zu Jhwh aus«, da es »ein Ende von Leid- und Gewalterfahrungen« bedeutet (319). Dabei ist dieses Leid nicht Folge der Schuld Israels, sondern »Folge des Verhaltens Jhwhs« (321).
5. Die Zukunft ist charakterisiert durch eine Veränderung des Verhältnisses von JHWH, Volk und Völkern (323). Dies kann sich in einer Umkehrung der Machtverhältnisse oder einer neuen Durchlässigkeit der Grenze zwischen Israel und den Völkern zeigen (ebd.). Beide Modelle – exklusives und inklusives – werden dabei allerdings nicht miteinander in Einklang gebracht (325).
In einem weiteren Abschnitt entfaltet S., inwiefern Zion-Jerusalem und der Getreue JHWHs als Modelle für die Zukunftszeit dienen können. Beide »nehmen in der Vermittlung und Entfaltung [der] Zukunftsvorstellungen eine zentrale Position ein« (327). Zion als Figuration des Weiblichen dient dem Ziel, die Vorstellbarkeit der Zukunftszeit für die Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt zu erleichtern.
Beim Getreuen JHWHs ist in den Texten eine Schwerpunktverschiebung festzustellen, bei der der Fokus von der Darstellung von Handlungsfähigkeit hin zu Ohnmacht reicht, welche durch die Zusage der Erhöhung gerade in der Ohnmachtssituation konterkariert wird (339). Als Einzelperson geschildert, dient der Getreue als Einladung zur Identifikation, als Modell für ein angemessenes Verhalten gegenüber Gott und den Menschen in der neuen Zu­kunftszeit und eine Aufforderung zum Handeln (344).
Hinsichtlich ihrer Themenstellung gelingt es S., die Andersartigkeit von Zeitvorstellungen im Alten Testament gegenüber modernem Zeitverständnis überzeugend darzustellen. Es wird deutlich, dass Zeit im Alten Testament keine lineare Größe, sondern qualitativ bestimmt ist und dabei verschiedene Zeit- und Zukunftskonzepte nebeneinander existieren können. Sehr überzeugend ist m. E. auch die Deutung des Gottesknechtes, der nicht als konkrete Persönlichkeit, sondern sowohl individuell wie kollektiv verstanden wird und damit als Repräsentant der Haltung (einer Gruppe) einerseits Israel gegenübersteht, andererseits dieses zur Identifikation einlädt. Anders ist dies bei Zion. Zwar wird Zion personalisiert (was u. a. ja auch traditionsgeschichtliche Gründe hat), aber es wird nicht so recht klar, ob auch Zion Identifikationsgröße sein soll oder nicht vielmehr bereits direkte Adressatin in Jes 49–55 ist (dies gibt S. auf S. 327 ausdrücklich zu), wofür ja nicht zuletzt die vielfältigen Anreden sprechen. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum Gottesknecht, der entweder zitiert wird oder über den eine Gruppe spricht, der aber niemals direktes Gegenüber der Rede in Jes 49–55 ist. Insofern besteht m. E. ein größerer Unterschied hinsichtlich Funktion und Identität zwischen Knecht und Zion. Allerdings gilt dies m. E. nicht im Hinblick auf das 4. Gottesknechtslied. Hier könnte die Kontextualisierung sogar dafür sprechen, dass Zion und Gottesknecht identisch sind und das Leiden Zions stellvertretende Sühne (etwa für die Gola) bewirkt.
Gerne vergleicht S. die Texte mit einem bunten Gobelin. Tatsächlich bewahrt eine synchrone Interpretation davor, Texte vor­schnell auseinanderzureißen. Auch ein literaturhistorisches Vorgehen rechnet allerdings damit, dass Fortschreibungen nicht planlos, sondern durchaus sinnvoll in den vorliegenden Text eingegriffen haben. Gleichzeitig darf eine synchrone Exegese nicht dazu führen, vorhandene Spannungen nur ungenügend wahrzunehmen. Eine solche ist m. E. die widersprüchliche Sicht der Völker. Hier hätte man sich doch seitens S.s ein Wort dazu gewünscht, wie sich diese in den bunten »Gobelin« einfügen oder ob hier nicht das Muster doch nachhaltig gestört ist. Überhaupt könnte sich gerade von daher die Frage nach der historischen Situation stellen (die übrigens irgendwie in der Arbeit immer im Hintergrund steht, ohne jedoch weiter ausgeführt zu werden). Treffen hier vielleicht unterschiedliche theologische Konzepte aufeinander, die Zeugnis eines spannenden Diskurses in der nachexilischen Gemeinde sind und auch so unterschiedliche »Zukunftsvorstellungen« entwi-ckeln? In jedem Fall wäre es gewiss ein lohnendes Unternehmen, eine »linguistische Pragmatik« in ein engeres Gespräch mit einer redaktionsgeschichtlich arbeitenden Exegese zu bringen. Beide Seiten würden wohl profitieren.