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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1358–1360

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bauckham, Richard, Davila, James R., and Alexander Panayotov [Eds.]

Titel/Untertitel:

Old Testament Pseudepigrapha. More Noncanonical Scriptures. Vol. 1. Foreword by J. H. Charlesworth.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. 848 S. Geb. US$ 90,00. ISBN 978-0-8028-2739-5.

Rezensent:

Paul Metzger

Am Anfang ist die Quelle. Für die Erforschung der Religion des antiken Judentums und des frühen Christentums sind Quellen zu einem großen Teil Texte. Diese Texte müssen gefunden, in ihrer Bedeutung erkannt und so aufbereitet werden, dass sie für die interessierten Leser zugänglich sind. Dieser Arbeitsprozess stellt eine mühsame, aber äußerst verdienstvolle Aufgabe dar. Ihr haben sich viele Spezialisten gestellt, die unter der Führung der Herausgeber eine bemerkenswerte Textedition herausgebracht haben, die die Kenntnis besagter Themen bereichern wird.
In den »Old Testament Pseudepigrapha« werden – wie der Un­tertitel deutlich macht – »more noncanonical Scriptures« einer über Spezialisten hinausführenden Leserschaft bekannt gemacht. Dieses Publikum, von den Herausgebern als »general public« (XXXVI) bezeichnet, ist damit neben den Fachkollegen die intendierte Le­serschaft der Sammlung, was ein hehres Vorstellungsvermögen anzeigt. – Die meisten der hier edierten Texte sind in der bislang vor allem im englischen Sprachraum am häufigsten gebrauch-ten Ausgabe alttestamentarischer Pseudepigraphen von James H. Charlesworth nicht enthalten und ergänzen diese somit. Sie sollen in erster Linie Texte enthalten, die der weiten Leserschaft unbekannt sind, was bei den meisten Texten wie z. B. dem »8. Buch Mose«, einem aus dem 4. Jh. n. Chr. stammenden Werk mit magischen Praktiken, durchaus der Fall sein dürfte.
Insgesamt handelt sich um annährend 50 Texte, die aus verschiedenen Sprachen (Aramäisch, Armenisch, Koptisch, Griechisch, Hebräisch, Lateinisch, Kirchen-Slawisch, Syrisch) übersetzt wurden. Präsentiert werden diese in zwei Hauptabschnitte, wobei sie zunächst in der Reihenfolge der biblischen Chronologie angeordnet werden. Texte, die sich inhaltlich mit Adam beschäftigen, stehen also schlicht vor Texten, die sich mit Abraham oder Mose befassen. Dies trägt der Einsicht Rechnung, dass viele Texte der Sammlung sich um eine aus dem Alten Testament bekannte Figur drehen, deren Geschichte sie entweder ausführlicher erzählen und so logische Brüche oder Lücken in der Erzählung korrigieren oder füllen bzw. den alttestamentlichen Helden neue Einsichten (z. B. Vision, Himmelsreise etc.) zukommen lassen, die diese dann wiederum durch die Texte vermitteln. Ein zweiter, kürzerer Teil ordnet nach inhaltlichen Themen, wobei hier – wie im ganzen Werk – auch Texte zur Übersetzung kommen, von denen lediglich Zitate oder Fragmente überliefert sind.
Jeder Text wird übersetzt und zusätzlich mit einer Reihe von Informationen zur Textentstehung, Quellenlage angereichert. Die beigegebenen intertextuellen Referenzen und die ausgeführten Bibliographien helfen dabei, die Texte in ihren wirkungsgeschichtlichen Kontext einzuordnen und ihre Beziehungen zu den kanonischen Texten nachzuvollziehen.
In der Einleitung zeigen die Herausgeber, dass sie sich voll der unbefriedigenden Titulatur ihrer Textsammlung bewusst sind. Ohne die Diskussion um das Verhältnis von Kanonizität, Autorität und Historizität bezüglich der Bezeichnung »Pseudepigraph« hier ausführen zu können, ist es am Ende eine einfache, aber überzeugende Argumentation, die zur Beibehaltung des traditionellen Titels führt. Weil »noncanonical« zwar sehr präzise und eindeutig, aber doch auch zu weit gefasst ist, um eine positive Bezeichnung des Inhalts der Sammlung leisten zu können, muss als Bezugspunkt »Old Testament« »for better or for worse« (XXVII) gesetzt werden, um der breiten Leserschaft, die mit diesem Begriff vertrauter sein dürfte als mit der Bezeichnung »Hebräische Bibel«, deutlich zu machen, worauf sich die hier präsentierten Texte inhaltlich beziehen. Aus diesem Grund wird auch der belastete Begriff »Pseudepigraph« beibehalten, da sich bislang kein anderer Fachterminus durchgesetzt hat, der eine ähnlich breite Akzeptanz gefunden hat. Dabei ist den Herausgebern bewusst: »The title is an unsatisfac-tory compromise, but anything more precise would be more cumbersome, less clear to nonspecialists, and would have to resort to jargon whose value remains debated.« (XXVII)
Die Prinzipien, nach denen Texte in die nicht definitiv abgeschlossene Sammlung, die auf jeden Fall durch einen zweiten Band ergänzt werden wird, aufgenommen wurden, erläutern die Herausgeber wie folgt:
1. Es werden nur Texte aufgenommen, die spätestens im 7. Jh. n. Chr. vorliegen, also vor dem Aufstieg des Islams geschrieben wurden. Damit ist klar bezeichnet, dass es der Sammlung nicht in erster Linie darum geht, Texte bereitzustellen, die einen direkten Einfluss auf die kanonischen Texte gehabt haben, also als Hintergrund der biblischen Texte verstanden werden können, sondern dass die Texte für sich selbst erfasst werden sollen und damit allenfalls sekundär zur Kenntnis der Welt beitragen, in der sich Judentum und Christentum entwickeln.
2. Diesem Ziel entsprechen die Herausgeber, wenn sie Texte in ihre Sammlung aufnehmen, die ein weites Bild ihrer Zeit auch hinsichtlich der Herkunft der Quellen erlauben. Deshalb beinhaltet die Sammlung Texte »of any origin, including Jewish, Christian, or indigenous polytheistic (i. e. ›pagan‹) works.« (XXVIII) Als Beispiel des paganen Hintergrunds eines Textes kann das Buch der tiburtinischen Sibylle genannt werden, einer apokalyptischen Schrift aus dem 4. Jh. n. Chr., deren Hauptfigur, die römische Seherin, christlich »adoptiert« wurde.
3. Aus »purely practical reasons« (XXIX) wurden – mit Ausnahmen – alle Texte außer Acht gelassen, die bereits in anderen Textsammlungen (Qumran, Nag Hammadi) enthalten sind.
4. Texte, die bereits in anderen Sammlungen enthalten sind, werden nur dann aufgenommen, wenn »new manuscript data« (XXIX) vorliegen (z. B. beim »Leben Adams und Evas«) oder die Herausgeber der Meinung sind, »the text requires a new treatment for other reasons« (XXIX), die dann in der Einleitung zum jeweiligen Text erörtert werden (z. B. die eigenständige Einleitung der Bücher 5/6Esra).
5. Texte, die Material aus dem unter 1. genannten Zeitraum beinhalten, werden auch dann aufgenommen, wenn die Manuskripte erst nach der dort genannten Zeitgrenze vorliegen.
Was der Sammlung hervorragend gelingt, ist die Weitung des Blickwinkels. Ohne zu schnell auf die biblischen Texte zuzugehen, entwerfen die Texte ein breites Bild der Unterschiedlichkeit des antiken Judentums und frühen Christentums, die sich in Abgrenzung, Auseinandersetzung, aber auch Übernahme von Traditionen und Vorstellungen nebeneinander entwickeln. Obwohl die Herausgeber deutlich betonen, dass »the importance for the study of Second Temple Judaism and the New Testament has not been a criterion for including texts in the collection«, und darauf bestehen, dass sie »a much broader view of the value and importance« (XXXII) ihrer Sammlung haben, ist es letztlich doch die Religionsgeschichte beider Religionen, die den Fluchtpunkt der Sammlung bildet. Auch das Verhältnis dieser Texte zu den biblischen Texten, sei es ein Nebeneinander, ein sich gegenseitiges Interpretieren oder ein Zeugnis der Wirkungsgeschichte, ist von Interesse, besonders bezüglich der Frage nach der kanonischen Geltung von bestimmten Texten für verschiedene Gruppen. Die Sammlung legt deshalb in der Tat einen Grundstein für weitere Studien, »[which] reveal a quite complex picture of a diversity of uses of different pseudepigraphal works in a variety of contexts« (XXXIV).
Für Theologen wie Historiker bildet der voluminöse Band eine Fundgrube an Erkenntnissen und weiterführenden Fragestellungen. Die harte Arbeit der Quellenforschung hat sich gelohnt.