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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1296-1297

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haspelmath-Finatti, Dorothea

Titel/Untertitel:

Theologia Prima. Liturgische Theologie für den evangelischen Gottesdienst.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 251 S. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 80. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-525-62430-2.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Mit dieser Dissertation, mit der Dorothea Haspelmath-Finatti im Wintersemester 2012/13 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn promoviert wurde (Doktorvater Michael Meyer-Blanck), wird lobenswerterweise eine umfangreiche Übersicht über Gottesdienstverständnisse und liturgische Theologie in ökumenischer Absicht vorgelegt. Zahlreiche Ansätze und Konzepte aus dem deutschsprachigen Gebiet, aus den USA und aus Italien werden vorgestellt und zugleich wird der Versuch unternommen, die Begriffe Rechtfertigung und Liturgie in Form der theologia prima und der liturgischen Theologie anhand der einschlägigen Autoren zu erfassen und zu beschreiben. Die Vfn. geht davon aus, dass die ökumenischen Konzepte von theologia prima und liturgischer Theologie ein Gottesdienstverständnis implizieren, das der Rechtfertigungslehre entspricht. Dabei beruft sie sich auf die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche. Die ökumenischen Konzepte von theologia prima beschreiben mit diesem Begriff die Selbstvergegenwärtigung Gottes im Gottesdienst, also jene zentrale Handlung, »durch die Gottes erlösendes Tun als Geschenk erneuerten Lebens in der Kraft des Heiligen Geistes er­fahren wird.« (13) Die liturgische Theologie ist jene Theologie, die von diesem Geschehen als primärem Ort von Theologie ausgeht und sich folglich akademisch als theologia secunda verstehen kann. Sie ist die Reflexion der theologia prima. Dabei tritt der immer wieder auftauchende Fragenkomplex hervor, welche Bedeutung die menschliche Handlung im Gottesdienst hat, wenn sich doch Gott im Gottesdienst selbst vergegenwärtigt ohne menschliches Zutun. Das war auch schon u. a. bei den Auseinandersetzungen um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre ein erheblicher Streitpunkt.
Die Untersuchung ist in drei Teilen aufgebaut: Der erste Teil be­fasst sich mit deutschsprachiger evangelischer Gottesdiensttheologie. Es werden vorgestellt Wilhelm Stählins Gottesdienstlehre mit Rekurs auf Odo Casel und Romano Guardini, Christoph Dinkels funktionale Gottesdiensttheologie, Michael Meyer-Blancks Gottesdienstlehre als Verbindung von Liturgik und Homiletik, Peter Brunners Gottesdienstlehre im Horizont von Engel und Kosmos, Gerhard Ebelings und Karl Barths Gottesdienstverständnis anhand des Wortes Gottes, Eberhard Jüngels evangelisch verstandener Gottesdienst, Oswald Bayers Verbindung von Wort und Sa­krament, Eilert Herms’ Worttheologie als Sakramentstheologie und Bernd Wannenwetschs Gottesdienstverständnis als Quelle der Ethik. Daraufhin werden diese evangelischen Gottesdienstverständnisse auf ihre Nähe oder Ferne zur liturgischen Theologie hin untersucht. Die Vfn. stellt viele Entsprechungen zwischen evangelischen Gottesdienstverständnissen und der liturgischen Theologie fest, auch wenn z. B. Dinkel einer theologia prima kritisch gegenübersteht. Dies ist vom Motiv eines ökumenischen Konzepts her verständlich, das ja alle einbinden möchte, aber übersieht, dass es doch erhebliche Differenzen gibt, die mit noch so gut gemeinten Argumenten nicht widerlegt, sondern eher überspielt werden.
Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich den Konzepten liturgischer Theologie aus der Ökumene, hier sind insbesondere die Theologie in Amerika und die römisch-katholische Theologie Italiens führend. Es werden vorgestellt: die liturgische Theologie von David A. Faberberg, der im Zusammenhang seiner Disserta-tion zur liturgischen Theologie von der lutherischen zur römisch-katholischen Kirche übertrat, vom orthodoxen Theologen Alexander Schmemann, von den römisch-katholischen Theologen Aidan Kavanagh und Robert Taft, von dem Lutheraner Gordon W. La­throp. Abschließend wird festgehalten, dass liturgische Theologie und Rechtfertigung erhebliche Entsprechungen in postmodernen Denkweisen haben, was wiederum erstaunt, sagen doch die Pro-tagonisten der Postmoderne, dass es im Gegensatz zur Moderne keine »wahren« Standpunkte mehr geben kann, sondern vielmehr Prozesse: Es geht nicht mehr um ein geschlossenes Verstehens-system, sondern um offene Systeme, es geht nicht um die richtige Position, sondern um das rechte Handeln. Ob das die amerikanischen Theologen im Blick haben mit ihren Versuchen einer liturgischen Theologie, ist doch sehr fraglich, denn die Autoren leugnen ja nicht ihre konfessionelle Verbundenheit, auch wenn sie ihre Kirche und ihre kirchliche Tradition durchaus kritisch sehen – was einem Theologen wohl gut ansteht, aber noch nicht unbedingt postmodern ist. Es folgen nun die römisch-katholischen Theologen Italiens: Andrea Grillo, Salvator Marsili, Giorgio Bonaccorso. Auch sie betonen auf je ihre Weise, dass Gottes Handeln am Menschen durch Wort und Sakrament in der Liturgie dem Reden des Menschen zu Gott und über Gott vorausgeht und so eine Erfahrung des Menschen mit Gott ist.
Zusammenfassend und im dritten Teil abschließend bündelt die Vfn. die unterschiedlichen Verständnisse der theologia prima durch eine neu verstandene Leiblichkeit, wobei mit dem Begriff Leiblichkeit in neuerer Zeit das ganze Leben gemeint ist und die Trennung von »Leib und Seele« überwunden wird. Das zeigt sich in der breiten theologischen Diskussion zur Bedeutung der Anthropologie. Theologia prima begreift die Vfn. in der Weise, dass es »um die körperliche Begegnung Gottes, der selber Körper ist […], mit körperlichen Menschen« (187) geht. »Liturgische Begegnung zwischen Gott und Mensch wird hier als Gottes körperliches Eingreifen in das körperliche Leben der Menschen verstanden. Die Rechtfertigung geschieht durch Gottes leibliches Tun, in Wort und Sakrament, am Menschen.« (187) So könne auch der evangelische Gottesdienst aufgrund der Impulse aus der liturgischen Theologie der Ökumene als eine gott-menschliche Handlung verstanden werden, da die Handlung von Gott ausgeht und den Menschen einbezieht. Zudem wird in der evangelischen Tradition aufgrund der besonderen Betonung der Rechtfertigungslehre darauf Wert ge­legt, dass Gottes Zuwendung unverfügbar ist, was das besondere Erbe der theologia crucis nahelegt. Gleichwohl bleibt die Spannung zwischen menschlichem und göttlichem liturgischen Tun unaufhebbar und auch mit einer theologia secunda letztendlich logisch nicht beschreibbar.
So aber bleibt die Frage unbeantwortet, ob eine Liturgie bzw. ein Gottesdienst als Ausdruck des Glaubens verstanden werden soll oder aber ob Liturgie als Quelle des Glaubens und damit auch als Quelle von Theologie in der evangelischen bzw. evangelisch-lutherischen Tradition angesehen werden kann. Der Verweis auf die Bedeutung der Leiblichkeit des Glaubens ist in diesem Zusammenhang ebenso notwendig wie hilfreich, reicht aber nicht aus, um damit fundamentaltheologische bzw. fundamentalliturgische Fragen zu beantworten, die – wie auch immer – in einer Untersuchung mit diesem Thema zumindest aufgegriffen werden sollten.