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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1291-1294

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ricken, Friedo

Titel/Untertitel:

Sozialethik.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014. 270 S. = Grundkurs Philosophie, 13; Urban-Taschenbücher, 397. Kart. EUR 24,99. ISBN 978-3-17-022502-2.

Rezensent:

Mathias Wirth

Mit dem Einführungsband zur Sozialethik legt der emeritierte Jesuiten-Philosoph der Philosophischen Hochschule München Friedo Ricken eine weitere Studie innerhalb des Grundkurses Philosophie als Urban-Taschenbuch bei Kohlhammer vor, so, wie er innerhalb dieses Verbundes ebenso Verfasser der Bände Allgemeine Ethik (Bd. 4), Philosophie der Antike (Bd. 6), Philosophie des 20. Jahrhunderts (Bd. 10) und Religionsphilosophie (Bd. 17) ist.
Schlägt man den Band zur Sozialethik auf, ist man zunächst erschrocken, denn die in elf Kapiteln angelegte Arbeit scheint bloß Philosophie-Geschichte sein zu wollen. Bei näherem Hinsehen allerdings erweist sich die etwas schulstaubig konzipierte Arbeit dann aber als materialreiche Zusammenschau relevanter Themen des sozialethischen Fragenkreises. Mit Platon (Kapitel A), Aristoteles (Kapitel B) und Cicero (Kapitel C), genauso wie mit dem Aquinaten (Kapitel D) und der Riege neuzeitlicher und moderner Philosophen (Grotius, Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Mill und Smith sowie Rawls), werden Grundthemen der Sozialethik veranschaulicht. Gegen die Gefahr einer parataktischen concatenatio verbinden die genannten Denker der verschiedenen Epochen allerdings ähnliche Probleme der Ethik, die im Umfeld der Fragen nach Ge­rechtigkeit, Gesetz, Eigentum, der Dialektik von Freiheit und Sys­tem bzw. Individuum und Gesellschaft etc. angesiedelt sind. Diese und verwandte sozialethische Analysebegriffe strukturieren je­weils die Kapitel und verbinden sie untereinander, weil sich die traditionellen Fragen der Sozialethik offensichtlich nicht erledigt haben, vielmehr als Folge immer differenzierterer Modi des Zu­sammenwirkens an Virulenz nie verloren haben.
Bereits in der Einleitung betont R. das bleibende Orientierungspotential der sozialethischen Klassiker für Diskurse der Gegenwart, dabei sei es die Gerechtigkeit, die als entscheidendes Differential firmiere und richtiges von falschem Handeln in der Komplexität menschlicher Vergemeinschaftung unterscheiden helfe. Im Anschluss an John Rawls betont er, so, wie die Wahrheit die Güte eines Gedankens ausweise, so Gerechtigkeit die Güte menschlicher Gesellschaft (11).
In Auseinandersetzung mit Platon stellt R. besonders subver-sive Elemente heraus, die den antiken Denker als kritischen Geist und Autor eines prononcierten Gerechtigkeitsbegriffs zeigen. So seien es »nicht notwendige Begierden« – um ein Beispiel herauszugreifen –, die zum Krieg führen, und eine solche Begierde, die das Gleichgewicht des Staates störe, sei die Zucht von Tieren, um sie zu schlachten. Letztlich bräuchte man (wegen entstehender Krankheiten durch Fleischkonsum) nicht nur mehr Ärzte, sondern auch mehr Land, das man sich von seinen Nachbarn stiehlt (24). Der sich bei den »nicht notwendigen Begierden« abzeichnende Unterschied zwischen Armen und Reichen sei bei Platon ebenfalls staatsgefährdend, denn bei Licht besehen zerfalle die Einheit eines Staates, wenn die ökonomischen Verhältnisse zu diskrepant seien (29). In der Politeia nennt Platon das Streben über das hinaus, was notwendig ist, den »Ursprung des Unheils«, wie R. zeigt (33). Auch Platons Gesetzesbegriff verhält sich subversiv zu einem dezisionistischen und autoritären Verständnis des Gesetzes, denn dieses dürfe nicht primär mit Strafe drohen, sondern sei effektiv, wenn es überzeugen könne (41).
Diese Position findet sich auch bei Cicero, worauf R. im entsprechenden Kapitel explizit hinweist (74). Solche thematischen Verbindungen finden sich in der Konzeption R.s immer wieder, nicht nur im Umfeld des Gesetzesbegriffs, sondern auch, wie bei Platon gesehen, beim Thema Krieg und Frieden. Waren es bei dem berühmten Sokrates-Schüler in einem allgemeinen Sinne Begierden, die Kriege provozieren, so sind es bei Thomas Hobbes, in ex-pliziter Abgrenzung von der positiven Sicht auf die menschliche Gemeinschaft bei Aristoteles, Neid und Hass, die Kriege evozieren und menschliche Gemeinschaft prägen und im Sinne Hobbes’ die Rede vom Menschen als zoon koinonikon falsifizieren (131). Indem R. dann John Rawls das Schlusswort überlässt, kommt ein Denker zu Wort, der menschliches Zusammenleben weder verfemt noch glorifiziert, stattdessen einen Gerechtigkeitsbegriff jenseits utilitaristischer Konzeptionen vorschlägt (218), der überhaupt erst nötig wird, weil Menschen sich das gegenseitige Recht auf Berücksichtigung regelmäßig absprechen. Ziel einer gerechten Gesellschaft sei die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens, zu dem die Beachtung diverser Bedürfnisse gehöre (243), wesentliches Instrument zur Erreichung dieses Ziels sei bei Hobbes die Toleranz (227), auf die R. zuvor unter Rekurs auf John Lockes berühmten, kirchenkritischen Brief A Letter concerning Toleration von 1689 aufmerksam gemacht hatte (152).
Einige kritische Anfragen seien notiert, die sich einmal auf die Verwendung der Begriffe Gerechtigkeit und Ethik beziehen, so, wie R. sie favorisiert und auf die Gesamtkomposition des Kompendiums. Obwohl Martha C. Nussbaums Die Grenzen der Gerechtigkeit in R.s Sozialethik Berücksichtigung findet, wird der Gerechtigkeitsbegriff als ethisches Differential nicht genügend problematisiert. Bereits in der Einleitung betont R. Gerechtigkeit als exklusives Kriterium zur Beurteilung kollektiven Handelns. Dabei bleiben die Problemseiten der Gerechtigkeit unbeachtet und damit auch eine Diskussion, ob Gerechtigkeit tatsächlich als universalisierbares Kriterium der Sozialethik taugt. Denn was gerecht ist, wird in komplexen Systemen zunehmend unübersichtlich, eine zu simple Orientierung am Begriff der Gerechtigkeit kann leicht gerecht erscheinen lassen, was tatsächlich auch ein Übel ist, etwa wenn Menschen aus Gründen (vermeintlicher) Gerechtigkeit Zukunftsperspektiven (verweigerter Abschluss) oder Freiheitsräume (Ge­fängnis) genommen werden. Der Rekurs allein auf die Gerechtigkeit betäubt das ethische Problem eher als es zu lösen, denn unter Verweis auf eine irgendwie geartete Gerechtigkeit findet eine das Gewissen beruhigende Legitimation des Zu-Legitimierenden statt. Da der Arbeit ein Resümee fehlt, ist der Ort genommen, die Eingangsbehauptung von der sozialethischen Normativität der Ge­rechtigkeit mit Blick auf den Gang durch die Philosophiegeschichte zu diskutieren.
Mit dieser Kritik korrespondiert eine weitere, die sich auf eine in der Einleitung begegnende Definition von Ethik bezieht. Danach frage Ethik nach einem »schlechthin« richtigen Handeln (11). Mit der Eintragung einer solchen Dimension des Absoluten suggeriert R. einen Standpunkt, von dem aus ohne Weiteres möglich zu sein scheint, absolut richtige Handlungen zu benennen. Gerade im Bereich der Sozialethik mit ihrem Materialobjekt der Gesellschaft als komplexem Konglomerat diverser Ansprüche und Güter verwundert R.s Absolutheitsanspruch, denn es wird in den meisten Fällen kaum gelingen, gesellschaftliches Handeln als absolut richtig zu erweisen. Damit ist nicht schon einem Liber-tinismus das Wort geredet, der jedweden Absolutheitsanspruch verwirft, denn tatsächlich gibt es im Sinne der »Hyperphänomene« nach Bernhard Waldenfels Unmögliches, auch im Bereich der Ethik, das absolut sein soll oder eben nicht sein soll. Aber anders, als R. in den Prolegomena seiner Arbeit insinuiert, fallen die meis­ten ethischen Entscheidungen nicht in den Bereich der Hyper-phänomene – und mithin hat seine Ethikdefinition inflationären Charakter.
Kompositorisch ist anzumerken, dass es höchst zweifelhaft sein dürfte, eine Einführung in die Sozialethik allein philosophie-geschichtlich anzulegen, um große Namen und ihre Eingaben durchzugehen. Es besteht für diese Einführung dabei kein Zweifel, dass viele zentrale Fragen angesprochen und mit wichtigen Argumentationsfiguren reflektiert werden; wenn auch wünschenswerte Diskussionen ausbleiben, wie man sie im Anschluss etwa an die Darstellung von Hobbes’ harschem Gehorsamsbegriff und im Übergang zu John Lockes Egalitarismus (»ohne Unterordnung und Unterwerfung«) erwartet hätte (138–140). Aber es drängt sich die Frage auf, ob eine Einführung in die Sozialethik ohne die Fragen und Konzepte der Gegenwart auskommen kann. Damit ist nicht behauptet, R.s Kompendium sei eine Art antiquarische Kiste ohne Impulse und Deutungspotential. Ihr fehlt aber eine entschie­dene Übertragung, die als Relevanzausweis fungieren müss te. So hat R. eine eloquente Materialsammlung vorgelegt, die schon deshalb wichtig ist, weil sie bekanntere und unbekanntere Passagen und Themen großer Denker des Sozialen nicht nur analysiert, sondern immer wieder aufeinander bezieht und mit maßgeblicher Klarheit sozialethische Fragen als Grundfragen der Philosophie darstellt.
Viele aktuelle Fragen, wie die der Reziprozität von Anerkennungsverhältnissen, können im Gespräch mit der Geschichte der Philosophie Orientierung finden. Dazu bietet R.s Werk einen ersten Zugang und ist zugleich mehr als eine bloße tour d’horizon.